Auch im Lockdown müssen Hochschulen die Prüfungsansprüche der Studierenden erfüllen. Das geht per Open-Book-Ausarbeitungen risikolos. Fernaufsicht per Videokonferenz und gar Aufzeichnungen der Klausuren sind demgegenüber datenschutzrechtlich hochumstritten. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein hat nun Fernaufsicht in der Privatsphäre zugelassen. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hält sogar eine Aufzeichnung der Klausur im privaten Rückzugsbereich für rechtmässig. Nun drohen Schadensersatzklagen von Studierenden.

Rolf Schwartmann
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Wer eine Prüfung ablegt, der hat einen Anspruch auf eine geeignete Abfrage seiner Kompetenzen. Chancengleiche Bedingungen bei der Abfrage des Prüfungsstoffes sind oberstes Gebot. Dazu müssen Täuschungsversuche bestmöglich unterbunden werden.

Neben den Anforderungen des Prüfungsrechts ist der Datenschutz zu beachten. Unabhängig von der von vielen Datenschutzbehörden kritisch gesehenen Frage, ob Videokonferenzsysteme nicht europäischer Herkunft überhaupt gestattet sind, dürfen Hochschulen zur Durchführung von Prüfungen nur Daten erheben, die für die Durchführung der Prüfung erforderlich sind (Artikel hinter Paywall).

Ob Studierende dazu ihre Einwilligung geben, ist für die Beurteilung, was erforderlich ist, unbeachtlich. Hier zählt nicht der Wille der Studierenden, sondern der übergeordnete Zweck, die Prüfung durchführen zu können (Artikel hinter Paywall).

Fernaufsicht ist nicht geeignet

Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein hält die Fernaufsicht von Klausuren für rechtmässig. Konkret sollen nach einer Regelung der Universität Kiel zur Verhinderung von Täuschungsversuchen Studierende während der gesamten Prüfung im privaten Rückzugsbereich Kamera und Mikrofon eingeschaltet lassen. Hochschulpersonal überwacht live, eine Aufzeichnung findet nicht statt. Die Entscheidung wurde im Eilverfahren getroffen.

Diese Regelung ist datenschutzrechtlich problematisch, weil die Videoaufsicht nicht geeignet ist, Täuschungsversuche zu unterbinden und deshalb nicht erforderlich sein kann.

Studierende können ausserhalb des Erfassungsbereichs der Kamera mit dem Smartphone unbemerkt ihre Bildschirme fotografieren, die gefertigten Bilder per Messenger versenden, auf demselben Weg Lösungen empfangen und eintragen.

Sie können die Aufgabe auch beim vermeintlichen Toilettengang Helfern im nicht überwachten Nebenraum zur Lösung abgeben und bei nächster Gelegenheit wieder abholen und verwenden.

Täuschen kann man im Hörsaal in der Regel unterbinden

Im Hörsaal hat die Hochschule die räumliche Hoheit und kann alle Hilfsmittel an den Rand des Hörsaals verbannen und sie kann unterbinden, dass Toiletten präpariert werden.

Täuschen hat in der Hochschule keine Systemrelevanz. Auch in grossen Hörsälen sind Hilfsmittel sofort sichtbar. Es gibt kaum tote Winkel. In den privaten Herrschaftsbereichen ist das anders. Hier gibt es umgekehrt nur einen kleinen Winkel, der einsehbar ist. Hier entscheiden Studierende, was ausserhalb der Kamera geschieht.

Während Täuschen an der Hochschule regelmässig wirksam unterbunden werden kann, ist das zu Hause umgekehrt. Deshalb scheitert die Fernaufsicht an der Eignung und damit am ersten Kriterium der Rechtmässigkeit.

Hier gilt: Die Möglichkeiten zum Pfuschen verhindert die Aufsicht nicht. Alle haben dieselbe Möglichkeit zu pfuschen. Die Dreistesten setzen sich durch. Das verkehrt den Gedanken der Chancengleichheit in sein Gegenteil.

Die meisten Prüfungen kann man digital ohne Aufsicht abnehmen

In der Regel bietet sich die Open-Book-Ausarbeitung als geeignete Alternative an. Sie kommt ohne Aufsicht aus. Dass es bei manchen Prüfungsleistungen um reine Wissensabfragen und nicht um das Prüfen von Transferwissen geht, ändert daran nichts.

Auch eine Wissensprüfung zum Beispiel in Anatomie kann man an Helfer weiterreichen. Täuschen kann man also auch hier. Das macht die Fernaufsicht ungeeignet, um die Chancengleichheit zu wahren. Die Ausnahmefälle, die nicht als Open-Book-Ausarbeitung durchgeführt werden können, die als eine Art "Minihausarbeit" nicht beaufsichtigt werden muss, können dann nur in Präsenz durchgeführt werden. Dasselbe gilt für Klausuren im juristischen Staatsexamen.

Freiwilligkeit setzt Handlungsalternative voraus

Auch die Einwilligung kann die Rechtmässigkeit der Fernaufsicht nicht retten. Das Gericht hält die Teilnahme an der Digitalprüfung unter Aufsicht für freiwillig, weil man daran ja freiwillig teilnimmt. Das mag prüfungsrechtlich betrachtet so sein. Datenschutzrechtlich scheitert die Freiwilligkeit aber an einer Handlungsalternative. Denn die Möglichkeit eines termingleichen Präsenzangebotes fällt im harten Lockdown, um den es im Fall geht, gerade weg.

Aufzeichnungen von Prüfungen ist nicht erforderlich

Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht geht noch einen Schritt weiter als das OVG Schleswig-Holstein. Die Fernuniversität Hagen sieht vor, dass Bild und Ton während der gesamten Prüfung aufgezeichnet werden dürfen.

Stellt die Aufsicht Unregelmässigkeiten fest, darf die Aufzeichnung zu Überprüfungs- und Beweiszwecken sogar bis zum Ende des Prüfungsverfahrens gespeichert werden. Warum eine Aufzeichnung der Prüflinge zu Hause zusätzlich zur Live-Überwachung erforderlich und damit datenschutzrechtlich erlaubt sein soll, ist nicht nachvollziehbar.

Hier erfüllt ein Protokoll des Aufsichtsführenden denselben Zweck ohne den zusätzlichen Überwachungsdruck einer Kameraaufzeichnung. Nach der Logik der Entscheidung kann künftig in jedem Hörsaal während der Klausur eine Kamera zur Überwachung aufgehängt werden.

Denn anders als das Gericht meint, haben Aufsichtsführende auch bei einer Präsenzklausur nicht jederzeit "das gesamte Geschehen im Raum im Blick". Hier wünscht man den Mitgliedern des Prüfungssenats ein wenig Aufsichtspraxis in einem Klausursaal mit bis zu 100 Prüflingen oder im Hörsaal bei der Anfängerprüfung.

Schadensersatz für Datenschutzverstösse

Die Entscheidungen bergen grosse wirtschaftliche Risiken für Hochschulen. Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich eine Entscheidung des Amtsgerichts Goslar bestätigt. Das hatte den Versand einer einzelnen (!) Werbemail als Datenschutzverstoss gewertet.

Allerdings wollte das Amtsgericht dem Empfänger der Mail dafür keinen Ersatz für einen immateriellen Schaden in Höhe von mindestens 500 Euro zusprechen. Karlsruhe hat diese Entscheidung nicht etwa bestätigt, vielmehr muss die Frage nach dem Schadensersatz nun dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden.

Über die Beurteilung der Frage, ob eine Fernaufsicht oder gar eine Aufzeichnung einen Schadenersatzanspruch auslöst, entscheiden die Zivilgerichte unabhängig vom Ergebnis der Eilbeschlüsse der Oberverwaltungsgerichte. Im Vergleich zu einer Werbemail ist reine rechtswidrige Videoüberwachung erheblich problematischer.

Der Klageweg ist vorgezeichnet

Der Weg von Klagen gegen die Hochschulen ist nun vorgezeichnet. Überwachte Studierende machen Auskunftsansprüche nach Art. 15 DS-GVO gegen die Hochschulen geltend und lassen sich innerhalb eines Monats sämtliche Daten zur Klausuraufsicht von den Hochschulen übersenden.

Die korrekte Auskunftserteilung ist komplex und fehleranfällig. Da die Hochschule schon bei der Auskunftserteilung unabhängig von der Fernaufsicht mit hoher Wahrscheinlichkeit Fehler macht, ist ein Datenschutzverstoss wahrscheinlich.

500 Euro müssen nach der Rechtsprechung für jeden Monat gezahlt werden, in dem die Auskunft nicht oder unvollständig erteilt wird. So kann der Sieg der Universitäten leicht zum Pyrrhussieg werden.

Verwendete Quellen:

  • faz.net: "Muss man am Bildschirm Gesicht zeigen?" (Artikel hinter Paywall)
  • faz.net: "'Videoüberwachte Klausuren sind derzeit nicht zulässig'" (Artikel hinter Paywall)
  • schleswig-holstein.de: "Corona – Videoaufsicht bei elektronischer Hochschulprüfung zulässig"
  • ovg.nrw.de: "Eilantrag gegen videoüberwachte Prüfung der Fernuniversität Hagen erfolglos
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