Vor fast genau 20 Jahren wurde in Nürnberg Enver Şimşek erschossen. Es war der erste Mord der rechtsextremen Terrorvereinigung NSU, weitere folgten. Es dauerte Jahre, bis die Täter aufgespürt wurden. Bernd Behnke vertrat im NSU-Prozess den Bruder eines der Mordopfer. Er sagt, er wisse nicht, ob das Urteil in seiner Gänze Bestand haben wird. Der BGH hat seine Einschätzung zu dem Urteil bisher nicht verkündet.

Ein Interview

Mehr Panoramathemen finden Sie hier

Mehr Panorama-News

Es war das Ende eines der grössten Prozesse der Nachkriegszeit, als am 11. Juli 2018 der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) München das Urteil gegen das NSU-Mitglied Beate Zschäpe und einige Unterstützer verlas: lebenslange Haft für Zschäpe, Haftstrafen auch für die anderen Angeklagten. Für den Prozess waren in rund fünf Jahren mehr als 600 Zeugen gehört worden, die zu den zehn Morden, zwei Sprengstoffattentaten und 15 Raubüberfällen, die dem NSU zugerechnet werden, aussagten.

Die Opfer der Anschläge und die Angehörigen der Mordopfer wurden von fast 80 Nebenklägern vertreten, einer von ihnen war der Rechtsanwalt Bernd Behnke. Er vertrat einen Bruder von Mehmet Turgut, der am 25. Februar 2005 im Alter von 28 Jahren in Rostock erschossen wurde. Behnke war an rund 400 der insgesamt 438 Verhandlungstage im Gerichtssaal.

Herr Professor Behnke, wie sind Sie an das Mandat gekommen, den Bruder von Mehmet Turgut bei dem Prozess als Nebenkläger zu vertreten?

Bernd Behnke: Mit seiner Familie hatte ich vorher schon Kontakt. Als feststand, dass es zum Prozess kommen würde, riefen sie mich an und fragten, ob ich sie vor Gericht als Nebenkläger vertreten würde.

Sie waren an den meisten Verhandlungstagen im Gerichtssaal, wie erinnern Sie die Atmosphäre?

Insgesamt gelassen. Das lag auch daran, dass der Vorsitzende des Senats die Verhandlung mit strenger Hand leitete und wenig Ausuferungen zuliess. Über die zahlreichen Beweisanträge wurde diskutiert, aber nicht gestritten, und sie führten nicht zu grossen Verzögerungen. Der Senat hatte die Verhandlung gut im Griff.

Welcher Verhandlungstag ist Ihnen am stärksten in Erinnerung?

Als die junge Frau aussagte, die Opfer des Sprengstoffattentats in der Kölner Probsteigasse wurde. Sie stand damals kurz vor dem Abitur. Vor Gericht beschrieb sie genau, wie sie die Stollendose, die jemand im Laden ihrer Familie abgegeben hatte, öffnete, die Drähte entdeckte und sich schnell hinter die Ladentheke warf. Trotzdem wurde sie bei der Explosion sehr schwer verletzt, die Narben sind bis heute nicht vollständig verheilt.

Die Frau hat ihr Abitur dennoch gemacht und ist heute Ärztin. Was mich an ihrem Fall besonders berührt, ist die Brutalität des Anschlags, der das Mädchen so schwer verletzt hat. Auf der Dose waren Weihnachtssymbole, der Mann, der sie abgab, sagte, er werde sie gleich wieder abholen.

Auf der anderen Seite berührte es mich sehr zu sehen, wie sich die Lehrerinnen und Lehrer der jungen Frau in der Folge darum bemüht haben, dass sie trotzdem ihr Abitur machen kann. Sie hat es auch dank dieser Hilfe und der ihrer Familie geschafft, Ärztin zu werden. Im Prozess hat sie gesagt: Ich bleibe in Deutschland, weil ich mich hier wohlfühle. Das hat mich sehr beeindruckt.

Am Ende des Prozesses wurde Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt, auch die anderen Angeklagten erhielten Haftstrafen, einige allerdings geringere als vom Generalbundesanwalt gefordert. Wie zufrieden waren Sie, war Ihr Mandant mit dem Urteil?

Als Anwalt kann ich nicht von persönlicher Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu sprechen. Mein Mandant und die Familie haben es jedenfalls angenommen. Sollten sie ein Gefühl der Ungerechtigkeit gehabt haben, half ihnen sicher ihr Glaube dabei, damit umzugehen.

Die Anwältinnen und Anwälte der Opfer haben während des Prozesses immer wieder versucht, mehr darüber zu erfahren, welche Versäumnisse es bei den Ermittlungen gegeben haben könnte. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht waren allerdings der Ansicht, das sei Sache der Untersuchungsausschüsse. Wie sehen Sie das?

Wer von einem Gericht erwartet, dass es über das, was in der Anklageschrift steht, hinaus ermittelt, verlangt aus meiner Sicht zu viel. Wie gross das Nazi-Netzwerk war, ob es andere Mitwisser und Unterstützer gar aus den Reihen der Behörden gab – all das kann das Gericht in diesem einen Verfahren nicht klären. Dafür gibt es in der Tat Untersuchungsausschüsse, und sollten sich daraus neue Verdachtsmomente gegen bestimmte Personen ergeben, wird es gegen sie auch wieder einen Prozess geben.

Das Thema "institutioneller Rassismus" wurde bei dem Prozess gestreift, aber nicht wirklich behandelt. Auch bei Ihren Mandaten war es ja so, dass sie selbst in den Fokus der Ermittler gerieten - ungerechtfertigterweise, wie sich dann ja herausstellte. Denken Sie, dass der Prozess dennoch dazu beigetragen hat, staatliche Behörden und die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren?

Dass die Familie, die gerade um einen geliebten Menschen trauerte, Gegenstand der Ermittlungen wurde, ist natürlich schwer auszuhalten. Und sicher gibt es bei der Polizei, wie auch in anderen Bereichen, Menschen mit Vorurteilen. Institutionellen Rassismus, also einen Rassismus, der quasi im System integriert ist, sehe ich hierzulande aber nicht.

Sensibilisiert hat der NSU-Prozess aber auf jeden Fall. Jeder kennt ihn und damit auch die unglaublich schweren Straftaten, die - man muss korrekterweise sagen: mutmasslich, denn das Urteil ist ja noch nicht rechtskräftig - vom NSU verübt wurden. Die Toleranz gegenüber anderen Religionen ist dadurch insgesamt etwas grösser geworden, ist mein Eindruck.

Allerdings hat es auch danach rechtsextremistische Gewalttaten gegeben: Walter Lübcke, Hanau, Halle. Wie ist es in unserer Gesellschaft um den Kampf gegen Rechtsextremismus bestellt?

Die rechtsextremen Auswüchse, die wir heute teilweise haben, sind Folge eines langen Prozesses. Wann er begann, wissen wir nicht – und es wird lange dauern, bis wir wieder gegengesteuert haben werden. Aufklärung, Schulbildung und faire gesellschaftliche Arbeit sind dafür wichtig. Die Menschen müssen wieder begeistert werden, dass sie ihre Grundwerte schützen wollen.

Wenn Sie sich den Prozess und das Urteil noch einmal ansehen: Finden Sie, da wurden in dieser Hinsicht Möglichkeiten verschenkt?

Nein, das denke ich nicht.

Glauben Sie, dass der Fall mit dem Urteil abgeschlossen ist, oder wird es irgendwann doch noch neue Erkenntnisse zum NSU geben?

Ob es neue Erkenntnisse geben wird, weiss ich nicht. Auch nicht, ob der Fall mit dem Urteil abgeschlossen ist. Aktuell befasst sich ja der Bundesgerichtshof, der BGH, mit dem mehr als 3.000 Seiten starken Urteil. Niemand weiss, ob es Bestand haben wird. Möglicherweise hat der BGH bei einigen Straftaten eine andere Sichtweise als das OLG – insbesondere, was die mutmassliche Mittäterschaft von Beate Zschäpe bei den Morden angeht.

An anderen Straftaten gibt es aber aus meiner Sicht wenig bis gar keine Zweifel, etwa was ihre Mittäterschaft bei der Brandstiftung und den Banküberfällen angeht. Diese Taten allein rechtfertigen schon eine hohe Freiheitsstrafe, weswegen ich glaube, dass sich am Strafmass für sie nichts ändern wird. Bei den anderen Verurteilten, insbesondere bei André E., könnte das anders aussehen.

Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, dass es einen neuen Prozess gibt. Endgültig werden wir das erst wissen, wenn der BGH seine Einschätzung zu dem Urteil verkündet hat. Das wird aber voraussichtlich erst in einem halben Jahr soweit sein.

Zur Person: Professor Bernd Max Behnke hat seine Kanzlei in Löffingen im Schwarzwald und eine Zweigstelle in Erlangen. Seine Fachgebiete sind unter anderem Wirtschafts-, Steuerstrafrecht sowie Opferschutz und Nebenklage. Behnke arbeitet seit 1983 als Rechtsanwalt, ist Mitglied der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. und Träger des Bundesverdienstkreuzes für sein soziales Engagement.



JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.