Von der strahlenden Heldengeschichte zum Albtraum: Kaum ein Prozess hat in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit ein solch emotionales Echo ausgelöst wie der Fall von Oscar Pistorius und Reeva Steenkamp. Viele Jahre galt der der Sprinter, der als "Schnellster Mann ohne Beine" in die Sportgeschichte eingegangen ist, als Vorbild und Idol. Bis in der Nacht des 14. Februar kurz vor Morgengrauen Pistorius' damalige Freundin Reeva Steenkamp starb - tödlich getroffen von Schüssen, die der Sprinter durch eine geschlossene Badtür abgegeben hatte.
Dass
Pistorius selbst spricht immer wieder von einem tragischen Irrtum. Demnach hatte er in der Tatnacht die vier Schüsse durch die geschlossene Badtür in seinem Haus abgegeben, weil er seine Freundin für einen Einbrecher hielt. Einen Streit - der laut Anklage die These einer "vorsätzlichen Tötung" unterstützen würde - habe es nicht gegeben. Unterstützt wird diese Version nach den bisherigen Erkenntnissen von den ballistischen Untersuchungen. Demnach hatte Pistorius seine Prothesen während der Schüsse nicht angelegt - was eher gegen eine Tat mit Vorsatz sprechen würde.
Zeugen belasten Pistorius schwer
Ganz anders liegt der Fall den Zeugenaussagen einer Nachbarin zufolge: Michelle Burger hatte während der Verhandlung noch einmal wiederholt, dass sie in der Tatnacht Schreie eine Frau gehört hatte, bevor die vier Schüsse fielen. Trotz der scharfen Angriffe von Pistorius' Verteidiger blieb sie bei ihrer Version der Geschichte. Auch ihr Mann bestätigte, Schreie gehört zu haben. Auf diese Zeugenaussagen stützt die Staatsanwaltschaft den Vorwurf, dass Eifersucht und Streit zu der Tat geführt hatten - und Pistorius seine Freundin voller Absicht ermordete.
Tatsächlich bleiben aber auch nach Prozessbeginn viele Fragen ungeklärt. So scheint es für Aussenstehende kaum nachvollziehbar, warum Pistorius ohne Nachzusehen und ohne Vorwarnung das Feuer eröffnete - obwohl er wusste, dass seine Freundin im Haus war und schlief.
Anklageschrift ist acht Seiten lang
In der achtseitigen Anklageschrift werden dem Sportler zudem neben dem Mord an seiner Freundin der unrechtmässige Besitz von Munition und der unverantwortliche Umgang mit Waffen vorgeworfen. Wenige Wochen vor der Tat hatte Pistorius angeblich von einem Bekannten in einem Restaurant unter dem Tisch eine geladene Waffe zugesteckt bekommen. Dabei hatte sich offenbar ein Schuss gelöst, der nur aus Glück niemanden verletzte. Umstände, die für viele Experten gegen Pistorius sprechen.
Bereits wenige Tage nach der Tragödie am Valentinstag hatte das Gericht Pistorius nach einer fünftägigen Kautionsverhandlung und unter zahlreichen Auflagen auf freien Fuss gesetzt. Neben einer Kaution von umgerechnet rund 85.000 Euro musste Pistorius unter anderem seine Pässe und Waffen abgeben. Ausserdem muss er seitdem rund um die Uhr für die Beamten erreichbar sein und darf keinen Kontakt zu Zeugen oder Bewohnern seiner Wohnanlage aufnehmen. Vor Erleichterung über die Kautionsentscheidung war der Sportler bei der Verkündung in Tränen ausgebrochen.
Bislang sind für das Verfahren drei Sitzungswochen angesetzt. Beobachter rechnen aber angesichts der über hundert Zeugen und der vielen Beweisanträge damit, dass sich der Prozess über einen deutlich längeren Zeitraum hinstrecken wird. Falls Pistorius am Ende des Verfahrens tatsächlich wegen Mordes schuldig gesprochen wird, droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Wenn ihn Richterin Thokozile Matilda Masipa wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, variiert das mögliche Strafmass je nach schwere der Tat zwischen einer Geldstrafe und 15 Jahren Haft.
Idol bis zu der tragischen Schicksalsnacht
Bis zu der Schicksalsnacht hatte Oscar Pistorius für viele Menschen als Idol gegolten. Pistorius war bei seiner Geburt 1986 ohne Wadenbeine auf die Welt gekommen. Im Alter von 11 Monaten wurden dem Jungen auf Anraten der Ärzte deshalb die Unterschenkel amputiert. Im Alter von 25 Jahren zählte er schliesslich zu den Top-Sprintern der Welt - und erhielt wegen der Form seiner Prothesen den Spitznamen "Blade Runner". Bei den Olympischen Spielen in London im Juli 2012 war er der erste Athlet mit zwei amputierten Beinen, der jemals an den Spielen teilnahm - eine Sensation, die für viel Gesprächsstoff sorgte.
Der gewaltsame Tod von Reeva Steenkamp, einem gefragten Model, am 14. Februar 2013 beendete diese Erfolgsgeschichte über Nacht. Nach umfangreichen Ermittlungen wurde am 19. August 2013 offiziell Mordanklage gegen Pistorius erhoben.
Der Prozess begann am 3. März. Seitdem verfolgen Hunderte von Journalisten die Verhandlungen. Grosse Teile davon werden - in Deutschland völlig undenkbar - live im Fernsehen übertragen. Zudem sieht das südafrikanische Rechtssystem keine Schöffen oder Geschworene vor. Das Urteil liegt also ganz im Ermessen der Richterin.
Wie die Entscheidung am Ende auch ausgehen mag: Bereits jetzt ist klar, dass die Verhandlung um den gewaltsamen Todesfall am Valentinstag und den Sturz einer Sportlerlegende zu den grössten Medienereignissen des Jahres zählt, das weltweit von Millionen Menschen verfolgt wird - und nicht nur in Südafrika Themen wie den gesellschaftlichen Umgang mit Waffen und Gewalt gegen Frauen neu auf die Tagesordnung bringen dürfte.
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