- Die Verzweiflung unter den Migranten an der belarussisch-polnischen Grenze wächst: Erneut verbrachten viele frierend die Nacht in einem provisorischen Camp.
- Eine grössere Gruppe versuchte, die Grenze in die EU zu durchbrechen. Europa ringt weiter um das richtige Vorgehen.
Eine grössere Gruppe von Migranten hat polnischen Behördenangaben zufolge in der Nacht zum Donnerstag versucht, die Grenze von Belarus nach Polen "gewaltsam" zu durchbrechen. Es handelte sich um etwa 150 Menschen, sagte Polens stellvertretender Innenminister Bartosz Grodecki am Morgen dem Sender Polsat News. Die Migranten hätten Soldaten mit Gegenständen beworfen und dann versucht, den Grenzzaun zu zerstören, schrieb das polnische Verteidigungsministerium bei Twitter. "Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft", hiess es weiter.
Die Lage beruhigte sich demnach, als Grenzschutzbeamte und Polizei zur Verstärkung kamen. Der belarussische Grenzschutz habe einen Grossteil der Migranten in den Wald gebracht. Viele Angaben aus dem Grenzgebiet lassen sich nicht abschliessend überprüfen, weil unabhängigen Journalisten bislang der Zutritt verwehrt wurde. Unterdessen blieb die Nacht in Nähe des mittlerweile geschlossenen Grenzübergangs Kuznica polnischen Behördenangaben zufolge ruhig.
Lage an der Grenze ist katastrophal
Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich seit Wochenbeginn dramatisch verschlechtert, als Tausende Migranten sich von belarussischer Seite aus auf den Weg in Richtung EU machten. Bereits mehrfach versuchten grössere Gruppen vergeblich, die Zaunanlage zu durchbrechen, mit der Polen sie von einem Grenzübertritt abhalten will.
Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt warten Tausende Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze in provisorischen Camps auch nach Tagen weiter auf Hilfe.
Staatsnahe belarussische Medien veröffentlichten in der Nacht zum Donnerstag unter anderem Videos von Kindern, die sich um einen Laster mit Trinkwasser drängen sowie von hustenden und blutenden Menschen. Sie warfen zudem der polnischen Seite Einschüchterungsversuche durch Schüsse vor.
EU kritisiert Alexander Lukaschenko scharf
Die EU hingegen spricht von einem Angriff durch den autoritären belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der gezielt Migranten aus Krisenregionen einfliegen und dann in Richtung polnischer Grenze drängen lassen soll. "Womit wir es zu tun haben, ist eine neue Art von Krieg. Ein Krieg, in dem Zivilisten und Medienbotschaften die Munition sind", schrieb Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei Facebook.
Die Vermutung ist, dass Lukaschenko sich für Sanktionen rächen will, die die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition bereits verhängt hat. Russland gab angesichts der angespannten Lage um die Migranten an, nun doch bei der Lösung des Problems helfen zu wollen, wie Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag der Agentur Interfax zufolge sagte. Zuvor hatte Kanzlerin
EU bereitet Sanktionen vor - Lukaschenko droht
Die europäischen Staaten bereiten unterdessen weitere Sanktionen gegen das autoritär geführte Belarus vor. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach nach Beratungen mit US-Präsident Joe Biden am Mittwoch im Weissen Haus in Washington von einem "hybriden Angriff eines autoritären Regimes". Ein neues EU-Sanktionsinstrument, das etwa gegen Fluggesellschaften oder Reiseveranstalter zum Einsatz kommen könnte, soll nach Angaben von Diplomaten bereits am kommenden Montag bei einem EU-Aussenministertreffen formell beschlossen werden.
Machthaber Alexander Lukaschenko droht unterdessen mit einer scharfen Antwort. "Und wenn wir das Gas abstellen dorthin?", sagte er am Donnerstag in Minsk in einer Sitzung mit ranghohen Funktionären, darunter Militärs. "Wir beheizen Europa, und sie drohen uns noch damit, die Grenze zu schliessen", meinte Lukaschenko.
Durch Belarus verläuft ein Teil der wichtigen russisch-europäischen Pipeline Jamal-Europa. Über die Leitung wird allerdings nur ein geringer Teil des Gases aus Russland nach Europa transportiert. Die Hauptmengen fliessen durch die Ukraine und durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1.
Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte eine humane Lösung des Flüchtlingsproblems an der Grenze zwischen Polen, Litauen und Lettland sowie Belarus. Man müsse das Problem so lösen, "dass es human zugeht", sagte sie am Mittwochaben. "Das tut es im Augenblick leider nicht", ergänzte sie. "Auf der anderen Seite ist es auch wichtig, dass die EU ihre Aussengrenzen schützen kann."
UN-Sicherheitsrat will sich mit Situation beschäftigen
Am Donnerstag soll die Situation an der östlichen EU-Aussengrenze auch den UN-Sicherheitsrat beschäftigen. Frankreich, Estland und Irland beantragten die Sitzung des mächtigsten UN-Gremiums für den Nachmittag (Ortszeit) in New York, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Sicherheitsratskreisen erfuhr. Der Rat soll hinter verschlossenen Türen tagen.
Polens Innenministerium stellte sich derweil auf verstärkte Einsätze an der Grenze ein, wie Grodecki sagte. Nach Sicherung eines grossen Marsches zum Unabhängigkeitstag in Polen sollten am Abend weitere Sicherheitskräfte aus Warschau an die Grenze verlegt werden. Auf der belarussischen Seite der Grenze werde viel Bewegung beobachtet. Die Menschen kämen bei Kuznica an und würden dann von belarussischen Kräften an andere Orte gebracht, sagte er. (dpa/ari)
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