In Grossbritannien sorgte zuletzt eine Serie von Suiziden im Umfeld der Reality-Show "Love Island" für Schlagzeilen. Diskutiert wird über die psychischen Auswirkungen, die Reality-TV auf die Teilnehmer hat. Dass die Kandidaten anfällig für psychische Probleme sind, hängt für den Psychologen Thomas Spielmann aber weniger mit den Formaten an sich als vielmehr mit der Auswahl der Kandidaten durch die TV-Macher zusammen.
Der Suizid von Caroline Flack hat in Grossbritannien Diskussionen ausgelöst. Die beliebte TV-Moderatorin wurde am 15. Februar tot in ihrer Londoner Wohnung aufgefunden, sie wurde nur 40 Jahre alt.
Flack moderierte die britische Variante des Formats "Love Island". Ihr Suizid ist bereits der dritte, der mit der Reality-Show in Verbindung gebracht wird. Auch die beiden früheren Kandidaten Sophie Gradon und Mike Thalassitis wählten nach ihrer Teilnahme an der Show den Freitod.
Die Suizide beschränken sich allerdings nicht nur auf "Love Island", die Online-Ausgabe der Zeitung "The Independent" nannte die Zahl von 38 Selbstmorden von Menschen, die seit 1986 in britischen Reality-Formaten zu sehen waren. In Deutschland fällt einem das tragische Schicksal
Sind Teilnehmer und Darsteller von Reality-Formaten also anfälliger für psychische Probleme? Für den Schweizer Psychologen Thomas Spielmann hängt dies mehr mit der Auswahl der Kandidaten zusammen, als mit den Formaten an sich.
Reality-TV: Drei verschiedene Gruppen von Bewerbern
Der Psychotherapeut castete zu Beginn des Jahrtausends die Kandidaten für die ersten Staffeln der Schweizer Ausgabe von "Big Brother" und erklärte live im Fernsehen das Verhalten der Teilnehmer. Ebenso wählte er die Teilnehmer für das Format "Expedition Robinson" aus und betreute die Kandidaten vor Ort in Malaysia.
Die Personen, die sich damals für die Teilnahme an den Reality-Formaten bewarben, teilt er in drei Gruppen ein. Zunächst die Gruppe A: "Zu einem grossen Teil waren dies Personen mit massiver Selbstwertproblematik verbunden mit schwacher Persönlichkeit, häufig psychisch angeschlagen bis auffällig, kaum lebenstüchtig, nicht selten mitten in Lebenskrisen. Und der Hoffnung, wenn nur mal berühmt, seien alle Probleme weg und der Selbstwert in voller Blüte."
Die Gruppe B charakterisiert Spielmann wie folgt: "Ein weiterer grosser Teil waren Personen mit ausgeprägt narzisstischen Zügen und der Überzeugung, bis anhin von der Welt nicht erkannt, obwohl eigentlich zum Star geboren worden zu sein. Die Teilnahme sollte dieses Unrecht korrigieren."
Und schliesslich die Gruppe C: "Ein sehr kleiner Teil waren Menschen mit ausgeprägter Persönlichkeit, mitten im Leben stehend, hochgradig lebenstüchtig und stressresistent, beziehungsfähig und mit dem Mut von Weltentdeckern, für die eine Teilnahme eine weitere Herausforderung in einem farbigen Leben darstellte."
Produzenten mischen sich in Casting ein
Während Spielmann beim Casting der ersten Staffeln laut eigener Aussage "peinlich darauf achtete", nur Menschen aus der Gruppe C in die Show zu nehmen, sollen sich ab der jeweils zweiten Staffel die Produzenten massiv in den Auswahlprozess eingemischt haben. Diese bevorzugten laut Spielmann Personen, die manipulierbar waren, beispielsweise zu Sex vor der Kamera, die offene Aggressionen zeigten, Intrigen gegen andere Kandidaten in die Wege leiteten oder Zusammenbrüche erlitten.
Kandidaten mit solchen Eigenschaften haben offenbar einen höheren Unterhaltungswert als bodenständige, in sich ruhende Teilnehmer und locken mehr Zuschauer vor die Bildschirme. "Executive Producers casten ohne Psychologen ausschliesslich Leute mit hoher Anfälligkeit für psychische Zusammenbrüche", sagt Spielmann, der sich mittlerweile im Ruhestand befindet.
Social Media verstärkt die Gefahr
Besonders für Reality-TV-Teilnehmer scheint der schnelle Ruhm verführerisch, der sich auch in den Follower-Zahlen der Social-Media-Accounts widerspiegelt. Im Gegensatz zu Stars aus den Bereichen Sport, Musik oder Kunst müssen sich Reality-Stars ihren Ruhm aber nicht hart erarbeiten, sie werden einzig und allein berühmt für das, was sie sind und nicht für das, was sie können. Dieser Ruhm hält aber oft nicht besonders lange an und die Stimmung kann gerade auf den Social-Media-Accounts ins Negative umschlagen.
"Social Media verstärkt bei psychisch angeschlagenen Menschen den Glauben, sie wären Riesenstars, wenn sie wie die Stars des FC Bayern auf dem Balkon des Rathauses den Meisterpokal stemmen könnten, vergessen aber, dass es zum Fussballstar ungemein viel Talent, ein paar Dutzend Liter Schweiss, vier Tonnen Schmerzen und einige Humpen Blutergüsse und Bänderdehnungen braucht", sagt Psychologe Spielmann.
Umso schmerzhafter sind die Anfeindungen im Netz. "Love Island"-Teilnehmerin Sophie Gradon, die sich 2018 umbrachte, beschwerte sich vor ihrem Tod über Mobbing und negative Kommentare auf ihren Accounts. Die Rückkehr ins normale Leben, mit einem normalen Job und Familie, abseits des Medienrummels, fällt vielen aufgrund der im Rampenlicht gemachten Erfahrungen nicht leicht. Allen negativen Erfahrungen zum Trotz.
Der Entertainment-Faktor ist wichtiger als die Expertenmeinung
Mittlerweile bieten viele Fernsehsender den Teilnehmern von Reality-Shows auch nach der Sendung psychologische Unterstützung an, um die Rückkehr in die Normalität zu erleichtern. Für den TV-erfahrenen Psychologen Spielmann ändert dies aber nichts am grundlegenden Problem.
"Das Problem ist, dass die Teilnehmenden bewusst nach falschen Kriterien ausgewählt werden. Richtig ausgewählte Teilnehmende brauchen wenig psychologische Unterstützung", erklärt er.
"Ich habe sehr die Erfahrung gemacht, dass selbst TV-Leute mit vorhandener Fundamentalethik einen verhängnisvollen Fehler begehen. Wie Frisöre, die jahrelange brillante Arbeit am Kopf ihrer Kunden machen. Dann plötzlich finden, sie seien jetzt auch befähigt, da sie ja Spezialisten für den menschlichen Kopf seien, neurochirurgische Eingriffe vorzunehmen - und den erfahrenen, wissenschaftlich ausgerichteten Psychologen beim Casting durch sich selbst zu ersetzen."
Um seelischen Problemen bei Kandidaten vorzubeugen, wäre es also nötig, psychisch geeignetere Menschen in die Reality-Shows zu holen. Da diese aber einen geringeren Unterhaltungswert mitbringen, wird sich an der Besetzungspolitik wohl nichts ändern.
"Ein Suizid bringt Quote" - selbst diesen zynischen Satz hörte Thomas Spielmann in seiner Zeit als Psychologe beim Fernsehen.
Verwendete Quellen:
- Experten-Gespräch mit dem Psychologen Thomas Spielmann
- The Independent: Love Island: The terrible toll of life as a reality star after the cameras are turned off
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