Ob Christentum, Islam oder Judentum: Soziale Gerechtigkeit spielt in den grossen Weltreligionen eine wichtige Rolle. Gerecht zu sein, ist dabei nicht nur Gott vorbehalten – sondern auch ein Auftrag an die Gläubigen.
Wie gerecht geht es zu? Das ist eine fundamentale Frage, die sich Menschen immer wieder stellen: in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz – aber auch mit Blick auf die gesamte Gesellschaft.
Laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der ARD finden 39 Prozent der Befragten, dass Deutschland in den vergangenen Jahren ungerechter geworden ist. Nur 15 Prozent sind der Meinung, es gehe gerechter zu.
Soziale Gerechtigkeit ist auch in den grossen Weltreligionen ein Thema, denn Religionen stellen Regeln für das Zusammenleben auf. Religion betreffe nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben, hat der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Wolfgang Huber, einmal gesagt. Es gehe dabei nicht nur um die Lebensgestaltung in Bezug auf Gott, "sondern auch auf sich selbst und die Mitmenschen".
Wie genau stehen die drei grossen monotheistischen Religionen aber zum Thema Gerechtigkeit?
Christentum: Barmherzigkeit als zentrale Tugend
Gerechtigkeit ist ein Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen – und so finden sich zu dem Thema auch in der Bibel und anderen christlichen Quellen viele unterschiedliche Ansätze.
Auf einen gemeinsamen Nenner könne man es so bringen, sagt Jochen Schmidt, Professor für Evangelische Theologie an der Universität Paderborn, im Gespräch mit unserer Redaktion: "Eine gerechte Welt ist eine Welt, in der Menschen gut leben können, in der Menschen einander nicht ausbeuten, in der keine willkürliche Gewalt herrscht."
Ein wichtige Bibelstelle zum Thema ist das Gleichnis von den Weinberg-Arbeitern im Matthäus-Evangelium: Der Herr des Weinbergs bezahlt alle Arbeiter mit einem Silbergroschen pro Tag – unabhängig davon, wie lange sie gearbeitet haben.
Die Arbeiter, die besonders früh angefangen haben, finden das ungerecht. Der Besitzer aber will, dass all seine Arbeiter von den Erträgen ihrer Arbeit leben können.
Dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen mag das Verhalten des Weinbergbesitzers widersprechen, allerdings ist Barmherzigkeit in der Bibel eine zentrale Tugend. "Es gehört zur christlich-moralischen Kultur, dass man eine besondere Sensibilität, eine besondere Hilfsbereitschaft für Menschen entwickelt, die Not leiden", erklärt Jochen Schmidt.
Er betont aber auch: "Das ist die Pflicht eines jeden Menschen, der verantwortungsvoll und moralisch handeln will – auch wenn er kein Christ ist."
Islam und Judentum: Die Pflicht, andere zu unterstützen
Grosse Unterschiede finden sich zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der grossen Religionen kaum. "Die Bereitschaft, zu geben, wird sowohl im Christentum als auch im Islam und im Judentum als Tugend angesehen", sagt Hamideh Mohagheghi, Islam-Wissenschaftlerin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Gläubige Muslime sind zum Beispiel angehalten, mindestens 2,5 Prozent ihres Einkommens an Bedürftige abzugeben.
Mohagheghi erklärt: In dem, was ein Mensch verdient, sei von vornherein ein Anteil für Menschen enthalten, die sich nicht selbst versorgen können. "Nur wenn man diesen Teil abgibt, kann man mit reinem Gewissen mit seinem Einkommen umgehen."
Im Judentum gibt es die Legende von den 36 Gerechten: Demnach hat Gott 36 Menschen in die Welt gesandt. Wer sie sind, ist unbekannt. Aber sie gelten als absolut gerecht, auf ihnen soll das Schicksal der Welt ruhen.
Das entbindet aber auch jüdische Gläubige nicht vom Auftrag, Nächstenliebe zu zeigen. Die Thora macht sie sogar zur Pflicht: Mindestens zehn Prozent seines Einkommens soll ein jüdischer Mensch für wohltätige Zwecke spenden.
Gerechtigkeit: Ein Auftrag für Gläubige
"Der Gerechtigkeit jage nach", heisst es in der Bibel wie in der Thora. In den grossen Weltreligionen dürfen Gläubige den Kampf für eine gerechte Welt nicht Gott überlassen.
"Natürlich beten Christinnen und Christen dafür, dass Gott Gerechtigkeit schafft", erklärt Jochen Schmidt. "Das ist Ausdruck der Hoffnung, dass wir damit nicht allein sind."
Dieser Wunsch bedeute aber nicht, dass der Mensch aus der Verantwortung entlassen ist. "Es ist Aufgabe aller Menschen, für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen. Wenn Gläubige sich für Gerechtigkeit einsetzen, dann tun sie das, weil Ungerechtigkeit schlecht ist – und weil sie an einen Gott glauben, der eine gerechte Welt will."
Dem Islam liegt die Vorstellung zugrunde, dass Gott die Welt im Gleichgewicht erschaffen hat.
Dass dieses Gleichgewicht erhalten bleibt, sei daher auch die Aufgabe der Muslime, sagt Koran-Wissenschaftlerin Hamideh Mohagheghi: "Der Mensch ist in der Pflicht, sich auch für die Gerechtigkeit einzusetzen und nicht darauf zu warten, dass Gott es richtet."
Wäre eine religiösere Gesellschaft also auch eine gerechtere Gesellschaft? Diese Frage ist schwierig zu beantworten.
Gläubige Menschen – egal ob Christen, Muslime oder Juden – sind auf jeden Fall zu Nächstenliebe verpflichtet. Wie genau jeder Einzelne von ihnen das in die Tat umsetzt, ist eine andere Frage.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Hamideh Mohagheghi, Koran-Wissenschaftlerin an der Universität Paderborn
- Gespräch mit Jochen Schmidt, Professor für Evangelische Theologie an der Universität Paderborn
- Die Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart
- BR.de: ARD-Umfrage Gerechtigkeit
- Evangelische Kirche in Deutschland: "Die Religionen und der Staat" – Vortrag im deutschen Generalkonsulat in Istanbul von Wolfgang Huber
- Jüdische Allgemeine: Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums – Ma'aser Seman
- MDR.de: Gerechtigkeit in den Weltreligionen
- RBB.de: Gerechtigkeit in den Weltreligionen
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