Die lebensbedrohliche Vergiftung eines Paares in Südengland vier Monate nach dem Anschlag auf die Skripals geht einem Bericht zufolge womöglich auf denselben kontaminierten Gegenstand zurück. Die Polizei prüft auch mögliche Zusammenhänge der beiden Fälle. Einen gezielten Anschlag schliessen die Behörden aus.
Die lebensbedrohliche Vergiftung eines Paares in Südengland vier Monate nach dem Anschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter könnte einem Bericht zufolge mit demselben kontaminierten Gegenstand zusammenhängen.
Das im Fall Skripal verwendete Behältnis für den Kampfstoff Nowitschok könnte ungewollt auch die nun erkrankten Briten in Lebensgefahr gebracht haben, berichtete die Nachrichtenagentur Press Association (PA) in der Nacht zum Donnerstag.
Am späten Mittwochabend hatte Scotland Yard mitgeteilt, dass die beiden ebenfalls durch Nowitschok vergiftet worden waren.
Das in Lebensgefahr schwebende Paar liegt in derselben Klinik der Stadt Salisbury, in der schon der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal (67) und seine Tochter Julia (33) behandelt worden waren.
Kreuzkontamination möglich
Statt der Theorie eines zweiten Anschlags prüfen die Ermittler laut PA den Verdacht einer sogenannten Kreuzkontamination. Dass das vergiftete Paar aus Südengland Opfer eines gezielten Anschlags geworden ist, schliessen die Behörden aus. Das berichtete der britische Sicherheitsstaatssekretär Ben Wallace dem Sender BBC.
Der vor der Attacke auf die Skripals verwendete Behälter zur Aufbewahrung des Nervengifts sei bis heute nicht gefunden worden, sagte eine ranghohe Regierungsquelle der Agentur. Denkbar sei deshalb, dass das Paar mit demselben Gegenstand in Berührung kam.
"Wir dürfen den Effekt nicht unterschätzen, der von der schockierenden Nachricht eines zweiten solch schweren Vorfalls binnen derart kurzer Zeit ausgeht", warnte der Polizeichef der Grafschaft Wiltshire, Kier Pritchard, in der Nacht.
Unsicherheit, wo die Kontamination stattgefunden hat
Für Verunsicherung sorgt vor allem die ungeklärte Frage, wie und wo die neuerliche Kontamination geschah.
Als Reaktion auf den neuerlichen Vergiftungsfall tritt der Sicherheitsrat der Regierung, das sogenannte Cobra-Komitee, am Donnerstag zu einer Krisensitzung unter Führung des britischen Innenministers Sajid Javid zusammen.
Federführend bei den Ermittlungen ist die mit über 100 Kräften beteiligte Anti-Terror-Sektion der Polizei.
Die Bevölkerung erwartet Antworten - viele Menschen in der Region fürchten um ihre eigene Gesundheit, zumal auch diesmal wieder einige Bereiche in Salisbury und in dem Wohnort des Paares, dem rund 13 Kilometer weiter nördlich gelegenen Amesbury, vorsichtshalber abgesperrt wurden.
Die Gesundheitsbehörde ging zunächst zwar nicht von einer "bedeutenden Gesundheitsgefährdung" für die Öffentlichkeit aus, doch die allgemeine Skepsis vermochte das nicht auszuräumen.
Schon im März waren Teile der Innenstadt von Salisbury abgeriegelt worden, nachdem die Skripals mit dem Kampfstoff vergiftet worden waren. Sie sassen bewusstlos auf einer Parkbank.
Grossbritannien bezichtigte Russland, als Drahtzieher hinter der Tat zu stehen. Nowitschok war in der früheren Sowjetunion hergestellt worden.
Skripal-Attentat löste internationale Krise aus
Das Attentat auf die Skripals löste eine schwere internationale Krise aus. Zahlreiche westliche Staaten, auch Deutschland, wiesen Dutzende russische Diplomaten aus. Moskau reagierte mit ähnlichen Massnahmen. Die Skripals leben inzwischen an einem unbekannten Ort.
Bei den nun vergifteten Opfern handelt es sich nach Polizeiangaben um einen 45-Jährigen und eine 44-Jährige aus der Region. Zunächst sei die Frau am Samstag kollabiert, später mussten die Ärzte auch den Mann ins Krankenhaus bringen.
Wissenschaftler prüfen nun, ob das Gift mit der Substanz identisch ist, die bei den Skripals verwendet worden war. Unter dem Begriff Nowitschok läuft eine ganze Gruppe eines bestimmten Nervengifts, das nach Hautberührung oder Einatmen binnen 30 Sekunden bis zwei Minuten Folgen beim Opfer zeigt.
Das Paar soll unter anderem eine Veranstaltung in einer Kirche besucht haben, bevor es am Samstag erkrankte. Die Beamten waren zunächst davon ausgegangen, dass die beiden möglicherweise verunreinigtes Heroin oder Crack eingenommen haben könnten und sich daher im kritischen Zustand befinden.
Das Forschungslabor für Chemiewaffen im nahe gelegenen Porton Down wurde mit den Untersuchungen befasst. Dort war auch das Nervengift Nowitschok im Fall Skripal identifiziert worden. Unabhängige Untersuchungen der Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) bestätigten damals das Ergebnis.
Nowitschok ist eines der tödlichsten Gifte überhaupt
Sein Name klingt harmlos, doch Nowitschok (zu deutsch Neuling) gilt als einer der tödlichsten je erfundenen Kampfstoffe. Sowjetische Forscher entwickelten die Serie neuartiger Nervengifte in den 1970er und 80er Jahren im Geheimen, um internationale Verbote zu umgehen.
Es sind nur wenige Details bekannt. Vermutlich besteht Nowitschok aus zwei an sich ungiftigen Komponenten, die ihre tödliche Gefahr erst beim Mischen entfalten.
Das Relikt aus dem Kalten Krieg soll fünf bis zehnmal stärker wirken als der chemische Kampfstoff VX. Mit diesem war im Februar 2017 der Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un in Malaysia ermordet worden.
Nowitschok, das oft in Form eines feinen Pulvers Verwendung findet, gelangt über Haut oder Atemwege in den Körper und führt meist binnen weniger Stunden zum Erstickungstod.
Das Gift ist nur schwer nachzuweisen, die Überlebenschancen sind gering. Selbst bei Vergiftungen dieser Art übliche Gegenmittel wie Atropin können meist nur wenig ausrichten. (arg/dpa)
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