- Anzeigen wegen Polizeigewalt gibt es viele, aber nur selten landen sie vor Gericht.
- Liegt der Fehler im System?
- Ein Strafrechtsexperte gibt einen Überblick.
Was genau an jenem Nachmittag des 8. August 2022 im Innenhof einer Kirchengemeinde in Dortmund passiert ist, wird sich wohl erst in einigen Wochen klären. Dann will die Staatsanwaltschaft Dortmund ihre Erkenntnisse zu dem Fall vorlegen. Klar ist bislang: Der 16 Jahre alte Mouhamed D., erst kurz davor aus Afrika nach Europa geflüchtet, ist tot; erschossen von einem Polizeibeamten.
Der "Spiegel" (Bezahlinhalt) hat kürzlich - auf Grundlage eines internen Behördenberichts - die Ereignisse an diesem Nachmittag eindrücklich beschrieben. Demnach hatte der 16-Jährige offenbar Suizidabsichten, sass mit einem langen Messer in der Hand in dem Hof. Als er auf eine Ansprache auf Deutsch, Englisch und Spanisch nicht reagiert habe, sollte er durch Reizgas und später auch durch Taser-Angriffe dazu gebracht werden, das Messer fallen zu lassen.
Als das nicht klappte und der junge Mann sich, laut Bericht, "schnell" auf den Beamten mit dem Taser zubewegte und schon sehr nah war, sei der sogenannte Sicherungsschütze "zur Schussabgabe gezwungen" gewesen, "um die Gefahr für den eingesetzten PVB (Polizeivollzugsbeamten) abzuwehren". Aufzeichnungen von Bodycams der Polizisten gibt es nicht. Der 16-Jährige starb wenig später im Krankenhaus. "In Fällen wie diesen mit Schusswaffeneinsatz wird "routinemässig ein Verfahren eingeleitet", sagt der Strafrechtsexperte Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Polizeigewalt: Nur wenige Anzeigen landen vor Gericht
Zu dem Tod des 16-Jährigen ermittelt die Mordkommission der Kreispolizeibehörde Recklinghausen, also ebenfalls Polizisten. "Es ist eine pikante Situation, wenn Polizisten gegen andere Polizisten ermitteln", sagte Singelnstein im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Hoheit über das Verfahren hat die Staatsanwaltschaft Dortmund. Sie entscheidet darüber, ob das Verfahren vor Gericht kommt, also Anklage erhoben wird. Aus den Zahlen, die es gibt, lässt sich nicht abschliessend sagen, wie gross das Problem mit Kollegen-ermitteln-gegen-Kollegen wirklich ist - also ob Fehlverhalten quasi systematisch unter den Tisch gekehrt wird.
Nur zwei Prozent der Verdachtsfälle kommen vor Gericht. Allerdings überrascht es schon, dass von 2.000 bis 2.500 Anzeigen wegen rechtswidriger Polizeigewalt im Jahr nur zwei Prozent vor Gericht landen, wie Tobias Singelnstein sagt. "Und das ist nur das Hellfeld. Es gibt ein grosses Dunkelfeld", erklärt der Strafrechtsexperte.
Das zeigten Umfragen mit Betroffenen, in denen die meisten gesagt hätten, dass sie gar keine Anzeige erstattet haben. Häufigster Grund: Die Annahme, in solch einem Strafverfahren ohnehin keine Chance zu haben. Mitunter mag gar kein Fehlverhalten der Beamten vorliegen. "Aber häufig gibt es auch Beweisprobleme", sagt Singelnstein, sodass viele Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Für die mutmasslichen Opfer und auch für die Öffentlichkeit ist das dann oft - mindestens - unbefriedigend. In anderen Ländern gibt es unabhängige Stellen. In den meisten Fällen bleibe der betroffene Beamte oder die betroffene Beamtin im Dienst, sagt Singelnstein.
Sollen in Zukunft mehr Psychologen bei der Polizei arbeiten?
Oft ist auch eine psychologische Betreuung nötig, auch in dem Dortmunder Fall sei den Beamten eine Betreuung "auf verschiedenen Ebenen" angeboten worden, sagte die Dortmunder Polizei dem "Spiegel". Bei einer Verurteilung wegen Tötung drohe Polizisten eine Freiheitsstrafe, sagt Singelnstein – wenn ein Fehlverhalten vorliegt und nachgewiesen werden kann. Zumeist kommt es aber eben gar nicht zu einer Anklage, "die Verurteilungsquote ist noch geringer".
Idealerweise kommt es natürlich gar nicht erst zu solchen schrecklichen Vorfällen wie in Dortmund. Ein Mittel könnte sein, Einsatzabläufe zu ändern, sagt Singelnstein. "Bei Schusswaffeneinsätzen ist es eine häufige Konstellation, dass der Betroffene ein Messer hat, auch psychische Ausnahmesituationen sehen wir hier oft." Zwar werde in der Polizeiausbildung ein grosses Augenmerk auf Deeskalation gelegt. "Allerdings sollte es noch wichtiger und häufiger werden, dass Psychologen hinzugezogen werden", findet der Jurist. Und zwar gerade in Situationen mit Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation – wie es anscheinend bei dem 16-Jährigen mit seiner Geschichte von Flucht und offenbar auch Misshandlungen der Fall war. Damit diese zusätzliche Hilfe genutzt werden kann, braucht es natürlich Zeit.
Man muss sich an anderen Ländern ein Beispiel nehmen
Was die Ermittlungen in Recklinghausen ergeben und was die Staatsanwaltschaft daraus macht, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Schon jetzt werden wieder Rufe nach einer Stelle lauter, die Vorwürfe gegen Polizisten unabhängig untersucht. In einigen wenigen Bundesländern gibt es bereits Landespolizeibeauftragte, die nicht an die Innenverwaltung gebunden sind. Sie hätten jedoch primär eine Mediationsaufgabe und "keine Kompetenz für strafrechtliche Ermittlungen", schreibt das Institut für Menschenrechte in einer Analyse.
Auch Tobias Singelnstein sagt, diese Ombudsstellen (Beratungs- und Beschwerdestellen, Anm.d.Red) seien ein Anfang, aber nicht genug. Es lohne ein Blick ins Ausland. "Andere Länder haben gezeigt, dass es möglich ist, eigene Behörden zu schaffen, die wirklich von den staatlichen Ermittlern getrennt sind", sagt Singelnstein.
Gute Beispiele für unabhängige nationale Behörden gibt es laut der Analyse zum Beispiel in Belgien, Dänemark und im Vereinigten Königreich.
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht und Kriminologie im Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Spiegel.de (S+): Tod im Schockraum (19. August 2022)
- Analyse des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Unabhängige Polizeibeschwerdestellen – Was kann Deutschland von anderen europäischen Staaten lernen? (2017)
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