In Schweden vergeht kaum eine Woche ohne neue Meldungen über Bandengewalt. Vor allem die Grossstädte sind Schauplätze von Kriminalität. Was ist in Schweden los? Was tut die Polizei? Der schwedische Kriminologe Amir Rostami analysiert die Hintergründe - und erklärt, warum Schweden nach Deutschland blickt.

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Kinder aus Bullerbü, Elche im Wald, leckeres Knäckebrot - was auch immer einem zuerst bei dem Stichwort "Schweden" in den Sinn kommt, wird wahrscheinlich weit entfernt sein von dem, was in dem skandinavischen Land aktuell Schlagzeilen macht: Dort eskaliert die Bandengewalt immer weiter - mit Strassenschiessereien, explodierenden Bomben und Sprengsätzen.

Erst Anfang August sorgte der Tod einer Zwölfjährigen für Entsetzen: Die Schülerin war vor einem Fast-Food-Restaurant nahe Stockholm aus einem Auto heraus erschossen worden. Auch Malmö ist immer wieder Schauplatz der Gewalt: Im November vergangenen Jahres wurde auf dem belebten Möllevangstorget-Platz ein 15-Jähriger erschossen.

Schweden: 163 Schiessereien im ersten Halbjahr 2020

Laut Polizei wurden in dem Land mit 10,3 Millionen Einwohnern im ersten Halbjahr 2020 bereits 20 Menschen bei 163 Schiessereien getötet. Verantwortlich für die Gewalt sind rivalisierende Banden, die in Schwedens Grossstädten ihr Unwesen treiben - bis zu 18.000 Mitglieder mit internationalen Verbindungen rechnet die Nationalpolizei ihnen laut Bericht des "Hamburger Abendblattes" zu.

Schon 2017 rückte US-Präsident Donald Trump Malmö ins internationale Scheinwerferlicht, als er sagte "You look at what's happening last night in Sweden" und auf einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen steigender Kriminalität und liberaler Einwanderungspolitik anspielte. "Wir haben Krieg, die Lage ist dramatisch", zitiert das "Hamburger Abendblatt" Jale Poljarevius von der schwedischen Nationalpolizei. Und Polizeichef Anders Thornberg sagte Ende 2019 bei einer Pressekonferenz: "Wir sehen international nichts Vergleichbares."

Betrug, Tötungsdelikte, Waffengebrauch

Was also sind die Ursachen? "Die Situation ist ein Paradox, weil wir zwei Realitäten beobachten", sagt Kriminologe Amir Rostami von der Universität Stockholm, der zur organisierten Kriminalität forscht und die schwedische Polizei berät, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Einerseits: Unter Einbeziehung des Bevölkerungswachstums gab es innerhalb der letzten zwanzig Jahre keine grossen Veränderungen bei der Kriminalitätsrate", sagt Rostami.

"Andererseits werden wir Zeuge einer Verschiebung: Es gab in den letzten zehn Jahren eine sehr negative Entwicklung bei den Taten, die wir typischerweise als 'organisierte Kriminalität' labeln", erklärt der Experte weiter. Die Fallzahlen bei Betrug, Tötungsdelikten, Waffengebrauch und anderen mit Banden verbundene Taten seien explodiert.

Problem zu spät eingestanden

Ein Problem, das der Experte in der Bekämpfung der Bandenkriminalität sieht: "Viele Jahre hat die schwedische Gesellschaft, insbesondere die schwedische Politik, die Ernsthaftigkeit unseres Gang-Problems nicht erkannt", kritisiert Rostami.

Nun sei die Gewalt so sichtbar, dass sie niemand mehr bestreiten kann. "Die Phase allerdings, in der wir diskutieren, was genau getan werden muss, hat immer noch nicht begonnen", klagt der Experte. Es mangele an einer nationalen Mobilisierung.

Bandenkriminalität in Schweden hat viele Facetten

Auch Rostami gesteht sich ein, dass das Problem nicht leicht zu lösen sein wird. "In Schweden benutzen wir den Begriff 'Smorgasbord' – ein Buffet mit einem Sammelsurium an Speisen. So ist es auch mit den Gangs: Es gibt unterschiedliche Typen mit verschiedenen Graden an Organisation", führt der Experte aus. Massnahmen zur Bekämpfung müssten deshalb an verschiedenen Stellen ansetzen.

Strassenbanden operierten vor allem lokal, hauptsächlich in Vororten der Grossstädte wie Stockholm, Malmö und Göteborg. "Sie treiben die Gewalt an und stehen aktuell im Fokus", kommentiert Rostami. Dazu gebe es aber noch Biker-Gangs, die Profit aus der aktuellen Situation schlagen würden. "Die Aufmerksamkeit von Medien und Politik liegt zurzeit auf den Strassengangs, weil sich deren Mitglieder gegenseitig töten. Die organisierteren Biker-Gangs bleiben deshalb unter dem Radar, sind aber weiterhin aktiv", analysiert der Kriminologe.

Situation "wie im Wilden Westen"

Weiterhin gebe es Banden, deren Verbindung auf Familienstrukturen und ethno-religiösen Zugehörigkeiten basiere. "Manche von ihnen sind hochgradig organisiert mit vielen Ressourcen und Leistungsvermögen. Andere haben sich auf bestimmte Delikte wie Betäubungsmittel spezialisiert", führt der Kriminologe aus.

Die Gangs würden sowohl konkurrieren als auch kollaborieren und dadurch ein riesiges Chaos kreieren. Die Lage sei "wie im Wilden Westen". Rostami dazu: "Das Milieu ist instabil, keine der Organisationen hat eine dominierende Position." Dadurch fehle es an interner Kontrolle. Auch externe Kontrolle lasse zu wünschen übrig. "Es gibt nicht genug Druck von Aussen - weder von den Kriminalität bekämpfenden Kräften wie der Polizei, noch von Sozialleistungsbehörden", sagt der Experte.

Geringe Aufklärungsquoten

Dabei seien die schwedischen Behörden nicht unbedingt machtlos, es brauche aber mehr abschreckende Resultate und höhere Effizienz - von der Strafverfolgung bis zur Sozialversorgung. "Das Risiko, geschnappt zu werden, ist sehr gering. Die Aufklärungsrate bei Tötungsdelikten mit Waffen liegt nur bei ungefähr 20 Prozent", macht Rostami deutlich.

Dadurch kämen im Schnitt acht von zehn Personen, die jemanden mit einer Waffe getötet haben, einfach davon. "Das ist einer der grössten Unterschiede zu Deutschland", vergleicht Rostami.

Blick nach Deutschland

Den Blick nach Deutschland werfen die Schweden immer öfter: "Wir brauchen bessere Instrumente, um Kapital der Banden beschlagnahmen und finanzielle Gewinne unterbrechen zu können, so wie es sie in Deutschland gibt", sagt Rostami. Immerhin habe die schwedische Regierung bereits ein Gesetzespaket gegen Gangs auf den Weg gebracht, zu dem unter anderem strengere Waffengesetze gehören.

"Die Regierung hat daran gearbeitet, Massnahmen zur Überwachung – etwa Kamerasysteme im öffentlichen Raum - zu erleichtern, es fehlt aber an vielversprechenden Vorschlägen, die wirkliche 'game-changer' wären", meint Rostami. Hoffnung setzt der Experte darauf, die Geldhähne für organisierte Banden wo immer möglich abzustellen: "Die Einrichtung einer Behörde zur Bekämpfung von Sozialhilfebetrug ist im Gespräch", sagt er. Werde diese richtig implementiert, seien Effekte auf die organisierte Kriminalität wahrscheinlich.

Liberale Einwanderungspolitik als Ursache?

Gleichzeitig fragen sich die Schweden, ob ihre liberale Einwanderungspolitik ursächlich für den Anstieg der Bandenkriminalität ist. Rostami gibt zu, dass eine schlechte ökonomische und kulturelle Integration zwar Brutstätte für organisierte Kriminalität ist, aber: "In Deutschland gibt es auch eine sehr liberale Einwanderungspolitik und dort herrscht das Problem so nicht. Deshalb schauen wir nach Deutschland und fragen uns: Was ist der Unterschied?"

Rostami fordert deshalb die Unterstützung der EU. "Wir müssen aufhören, organisierte Kriminalität als nationales Problem zu sehen", sagt der Forscher. Es brauche einen stärker EU-orientierten Kampf gegen organisierte Kriminalität, der dennoch die lokalen Realitäten adressiere.

In der Realität handele es sich um ein gigantisches Ökosystem, welches über nationale Grenzen hinaus operiere. "Schwedische Banden sind mit solchen in den Niederlanden verbunden. Viele illegale Waffen, die in Tötungsdelikten verwandt werden, kommen aus Balkan-Ländern", sagt Rostami und fordert: "Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, müssen dazu Wissen und bewährte Verfahren teilen", fordert er.

Über den Experten: Dr. Amir Rostami ist Kriminologe an der Universität Stockholm und forscht schwerpunktmässig zur organisierten Kriminalität. Er studierte Soziologie, ist Kommissar bei der Schwedischen Polizei und Mitglied im IACP Homeland Security Committee.

Verwendete Quellen:

  • "Abendblatt.de": Organisierte Banden in Europa - "Lage ist dramatisch"
  • "Süddeutsche.de": Krieg der Gangs
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