Seit dem Tod von Samuel Widmer, dem Oberhaupt der umstrittenen Kirschblütengemeinschaft, ist ein Jahr vergangen. Seine Schüler praktizieren jedoch auch weiterhin nach den Konzepten ihres Gurus: Regelmässig eskalieren Seminare nach Widmers Lehre in einen Drogen- und Sexrausch.

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1996 liess sich die aus rund 200 Mitgliedern bestehende Kirschblütengemeinschaft in Lüsslingen-Nennigkofen, einem 1.000-Einwohner-Dorf am Fusse des Bucheggbergs unweit von Solothurn nieder.

Sie versteht sich als eine Art Familie, die nach ihren eigenen Regeln lebt. Nach eigener Aussage geht es ihr um Selbstfindung und gemeinschaftliche Erfahrungen. Kritiker sehen in ihr eine Sekte.

"Mentale Abhängigkeit und Entfremdung von der Alltagsrealität"

"Als klassische Sekte würde ich die Kirschblütengemeinschaft nicht bezeichnen, sie zeigt aber deutliche Sektenmerkmale – dazu gehören eine erlösende Heilslehre, eine guruähnliche Führungsfigur, spirituelle Erlösungsvorstellung, Elitedenken und Abhängigkeitssyndrome", so der Journalist und Sektenexperte Hugo Stamm im Gespräch mit unserer Redaktion.

Im Gegensatz zu klassischen Sekten fehle die totale Kontrolle und die verpflichtende Einbindung.

Stamm schränkt jedoch ein: "Der Mix aus spirituellen Heilsvorstellungen und psycholytischen Therapien, verbunden mit einem Absolutheitsanspruch, führt aber zu mentaler Abhängigkeit und Entfremdung von der Alltagsrealität."

Freie Liebe und Therapien mit Drogen

Der im Januar 2017 verstorbene Samuel Widmer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, praktizierte die Psycholyse - eine quasi-therapeutische Methode mit Drogeneinsatz -, propagierte freie Liebe und stellte moralische Grenzen der Gesellschaft infrage.

Er selbst lebte promiskuitiv, hatte er doch neben seiner Ehefrau eine Zweitfrau sowie zahlreiche Geliebte.

Bis 1993 besass er vom Bundesamt für Gesundheit eine Spezialbewilligung, die es ihm erlaubte, mit den Substanzen MDMA (Ecstasy) und LSD psycholytische Therapien durchzuführen.

Mit seinen spirituellen Workshops und Seminaren landete er häufig in den Schlagzeilen. In der ARD-Sendung "Ich mach Dich gesund!" etwa wurde ihm 2015 vorgeworfen, auch nach dem Ablauf seiner Spezialbewilligung Patienten Mescalin und MDMA verabreicht zu haben.

Drogen als "Türöffner zur Seele"

2009 etwa kam es in einer seiner Therapiesitzungen unter den Teilnehmern zu heftigen Vergiftungserscheinungen.

Gruppensitzungen, so wurde in der ARD-Sendung weiters berichtet, würden in Drogentrips ausarten und die Methoden des "dubiosen Heilers" seien schlichtweg lebensgefährlich.

Belangt wurde Widmer jedoch nie, da es an Beweisen mangelte und die Opfer die Drogen freiwillig genommen hatten.

Stamm erklärt den Ansatz dahinter: "Die Anhänger glauben, die Drogen würden als Türöffner zur Seele wirken und traumatische Prägungen leichter lösen."

Der "Fall Handeloh"

Wie weit verbreitet Widmers Lehre war, zeigten auch die Ereignisse im deutschen Handeloh. In einem Tagungszentrum in der niedersächsischen Provinz geriet im Jahr 2015 ein Seminar völlig ausser Kontrolle.

27 Menschen, darunter Ärzte und Psychologen, experimentierten im Rahmen einer Psycholyse mit Halluzinogenen.

Die Folge: Sieben Notärzte und über 150 Rettungskräfte mussten ausrücken, um die an Atemnot und Wahnvorstellungen Leidenden zu versorgen – einige von ihnen kämpften sogar um ihr Leben.

Alles sei nur ein Unfall gewesen, soll der damals der 52-jährige Aachener Psychologe und Schüler Widmers, der die Drogen verteilt und den Massenrausch zu verantworten hatte, laut der "Bild"-Zeitung vor Gericht erklärt haben.

Er wurde danach wegen des Besitzes und Überlassens von Betäubungsmitteln angeklagt und im letzten Herbst zu einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Ein Berufsverbot bekam er nicht.

Ehemalige "Kirschblütlerin" packt aus

Im Anschluss an die Ereignisse in Handeloh beschloss Ariela Bogenberger, nach knapp 20 Jahren als Kirschblütlerin auszupacken.

In Der BR-Dokumentation "Aussteigen" (Regie: Petra K. Wagner) erzählt die heutige Drehbuchautorin und zweifache Grimme-Preisträgerin von den Geschehnissen in Handeloh und berichtet, wie sie selbst in einem Rausch aus Drogen und Sex gefangen war.

"Ich habe am eigenen Leib herausgefunden, dass es möglich ist, tiefgreifend manipuliert zu werden", so Bogenberger. Vieles sei ihr noch heute einfach "oberpeinlich", etwa dass Widmer sie und die anderen aus der Gemeinschaft zu Trantrasitzungen animierte: "Wir waren alle zugedröhnt und nackt im Kreis, auch aufeinander."

Bogenberger erklärt es sich heute so: "Ist man im Zustand der Indoktrination, kann man sie nicht erkennen. Das ist das Wesen einer Indoktrination."

Am "System Widmer" begann die heute 55-Jährige zu zweifeln, als sie realisierte, dass der Guru sich selbst nicht an seine Dogmen hielt, verriet sie 2017 Hugo Stamm, der sie interviewte.

Auf seine Frage, was der schwierigste Aspekt beim Ausstieg gewesen sei, antwortete Bogenberger: "Mir einzugestehen, dass ich mich getäuscht habe."

Widmers Frau hat das Kommando übernommen

Laut Hugo Stamm läuft der Kirschblütler-Betrieb auch nach Widmers Tod weiter wie bisher: "Seine Frau Danièle Nicolet führt nun die Gemeinschaft. Die Frage ist, ob der Erfolg ohne den 'Guru' Widmer langfristig garantiert ist. Ich vermute, dass die rund 200 Anhänger, die in der Nähe des Zentrums leben, aktiv bleiben werden. Die grosse Zahl der gelegentlichen Kursbesucher aus der Schweiz und Deutschland wird im Lauf der Jahre aber zurückgehen."

Erst kürzlich wurde in einem Haus im oberbayerischen Wessling im Rahmen eines Wochenendseminars für Psycholyse erneut mit Drogen hantiert, wie aus einer Polizei-Razzia hervorging.

"Mit unserem Zugriff wollten wir ein zweites Handeloh verhindern", erklärte Manfred Frei, Chef der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck, in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".

Auch jener 81-jährige Berliner, der das "Psycho-Seminar" in Wessling leitete, hatte einst beste Kontakte zu Samuel Widmer.

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