- Ein Gutachten kommt zum Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese München/Freising über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden.
- Unter anderem wird Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI., Fehlverhalten vorgeworfen.
- Eine Opferinitiative spricht von einem "Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde".
- Kardinal Reinhard Marx hat sich als Erzbischof von München und Freising für Missbrauchsfälle in seinem Bistum entschuldigt.
Der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, nennt das neue Gutachten zu sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising eine "historische Erschütterung" der Kirche. "Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal
Einige Taten hätten nur darum stattfinden können, weil Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising die Entscheidung getroffen habe, einen Missbrauchstäter in seinem Bistum einzusetzen. Das "täterzentrierte System" sei "an der Spitze belastet", sagte Katsch - "im Vatikan, da wo Benedikt bis heute sitzt und leugnet". "Jeder, der das jetzt hier gerade miterlebt hat, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist."
Missbrauchsexperte fordert Reaktion von Ratzinger
Missbrauchsexperte Pater Hans Zollner forderte ein konkretes Zeichen von Joseph Ratzinger. "Jetzt muss etwas vom emeritierten Papst Benedikt XVI. kommen. Er muss noch mal darauf reagieren", sagte Zoller der dpa. Zollner ist Mitglied der 2014 eingerichteten Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen und fungiert damit als externer Berater für den Vatikan.
Diejenigen, die missbraucht wurden, bräuchten nun Gerechtigkeit und Zuwendung, forderte Zollner. "Für eine wirkliche Aufarbeitung sind die menschliche, psychische und spirituelle Seite wichtig. Nur dann begreift man, was mit den Opfern passiert ist." Es sei erschreckend, dass das nicht von der Kirche gesehen wurde, kritisierte der deutsche Jesuit.
Die Reformbewegung "Wir sind Kirche" hofft nun auf weitere Untersuchungen in Deutschland. Sie forderte, "dass alle deutschen Bistümer unverzüglich und möglichst nach gleichem Standard Missbrauchsgutachten vorlegen, die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen", hiess es in einer Mitteilung von "Wir sind Kirche" am Donnerstag.
Die Organisation berichtete von einem "toxischen Muster" aus Vertuschung durch Leugnen, Versetzen und Wegschauen und erkannte eine "immer zwielichtiger werdende Rolle des damaligen Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger".
Papst Benedikt lässt über Privatsekretär ausrichten, er bete für die Opfer
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. bedauert nach den Worten seines Privatsekretärs Georg Gänswein den Missbrauch von Kirchenbediensteten an Minderjährigen. "Der emeritierte Papst drückt, wie er es bereits mehrmals in den Jahren seines Pontifikats getan hat, seine Scham und sein Bedauern aus über den von Klerikern an Minderjährigen verübten Missbrauch aus und erneuert seine persönliche Nähe und sein Gebet für alle Opfer", zitierte das Medienportal "Vatican News" Gänswein.
Benedikt habe "bis heute Nachmittag" das Gutachten der Kanzlei Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht gekannt und wolle es in den kommenden Tagen studieren und prüfen, erklärte Kurienerzbischof Gänswein weiter. Das Gutachten lastet dem heute 94-Jährigen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch in seiner Zeit als Erzbischof der Diözese München und Freising an. Joseph Ratzinger, wie Benedikt XVI. mit bürgerlichem Namen heisst, lebt seit seinem Amtsverzicht in einem Kloster im Vatikan.
Vorwürfe gegen ehemalige Erzbischöfe Ratzinger und Wetter sowie aktuellen Amtsträger Marx
Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei WSW kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden und wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen.
In dem Gutachten ist von mindestens 497 Kindern und Jugendlichen als Opfern sexueller Gewalt von 1945 bis 2019 die Rede ist. Laut der Studie gibt es mindestens 235 mutmassliche Täter, darunter 173 Priester und 9 Diakone.
Marx äussert sich: "Erschüttert und beschämt"
Kardinal Reinhard Marx hat sich als Erzbischof von München und Freising für Missbrauchsfälle in seinem Bistum entschuldigt. "Ich bin erschüttert und beschämt", sagte er am Donnerstag in München nach der Vorstellung eines Aufsehen erregenden Gutachtens zu sexuellem Missbrauch in der Diözese in den vergangenen Jahrzehnten.
Gespräche mit Betroffenen hätten bei ihm dazu geführt, seine Kirche heute in einem anderen Licht zu sehen: "Für mich haben die Begegnungen mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs eine Wende bewirkt. Sie haben meine Wahrnehmung der Kirche verändert und verändern diese auch weiterhin", sagte Marx. Seit Jahren sei bekannt, "dass sexueller Missbrauch in der Kirche nicht ernst genommen wurde, dass die Täter oft nicht in rechter Weise zur Rechenschaft gezogen wurden, dass es ein Wegsehen von Verantwortlichen gegeben hat".
"Wie ich immer wieder gesagt habe, fühle ich mich als Erzbischof von München und Freising mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten", betonte er. "Als der amtierende Erzbischof bitte ich deshalb im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das Leid, das Menschen im Raum der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zugefügt wurde."
In der kommenden Woche wolle er inhaltlich detaillierter Stellung zu dem Gutachten nehmen. (dpa/mko)
Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" - 08000/116 016, die Online-Beratung oder an das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" 0800/225 5530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01/3340 437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031/3131 400 (Schweiz).
Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
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