"Das Medikament ist leider nicht lieferbar" - diesen Satz hören Patienten in der Apotheke immer öfter. Die Ursachen für die Knappheit wichtiger Arzneimittel sind teilweise durch die aktuelle Gesetzgebung vorprogrammiert, so die Einschätzung von Apothekervereinigungen. Sie fordern die Politik zum raschen Handeln auf, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten.
Immer häufiger erleben es Patienten in Deutschland, dass sie vom Arzt verschriebene Medikamente in der Apotheke nicht erhalten. Wenn ihnen ein Ersatzpräparat angeboten wird, können sie oftmals schon von Glück sprechen. Denn es ist auch keine Seltenheit, dass wichtige Arzneimittel überhaupt nicht lieferbar sind.
Alexander von Waldenfels beobachtet die immer häufiger auftretenden Lieferengpässe schon seit Längerem. "Aber die Situation hat sich seit 2018 massiv verschärft", so das Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesapothekerkammer.
Die Gründe für die Knappheit einzelner Medikamente sind vielfältig. Mal kann es der Ausfall einer Produktionsanlage sein, mal Verunreinigungen oder aber es gab Schwierigkeiten beim Transport.
Krankenkassen drücken Preise
Doch dass Patienten in Deutschland immer häufiger unter den Engpässen leiden, hat auch strukturelle Ursachen. Das Problem ist letztendlich immer wieder auf den starken Preisdruck zurückzuführen, den die Krankenkassen auf die Hersteller ausüben.
"Zum einen werden die Festbeträge immer weiter gesenkt. Das ist der Betrag, den die Kasse bereit ist, für einen Wirkstoff maximal zu bezahlen", erklärt von Waldenfels.
Ein weiteres Problem sieht der Apotheker in den Rabattverträgen der Krankenkassen. Um ihre Kosten niedrig zu halten, schliessen diese oft exklusive Vereinbarungen mit nur einem Pharmaunternehmen für einen bestimmten Wirkstoff. Ihre Mitglieder erhalten dann beispielsweise Gerinnungshemmer ausschliesslich von diesem Vertragsunternehmen. Für die so abgesetzten grossen Mengen muss der Lieferant jedoch die Preise weiter senken.
Produktion verlagert sich in Schwellenländer
Die Pharmaunternehmen kaufen daher die Wirkstoffe überwiegend bei einer überschaubaren Anzahl an Herstellern in Niedriglohnländern wie China oder Indien ein.
Wenn es bei nur einem dieser Unternehmen zu Produktionsschwierigkeiten kommt, wirkt sich das oft spürbar auf die Gesamtverfügbarkeit des betreffenden Wirkstoffs aus. Ausserdem erschwert die Verlagerung der Herstellung in Schwellenländer auch die Kontrolle der Produktionsbedingungen. Immer wieder kommt es zu Rückrufen von Medikamenten, weil diese mit gesundheitsschädigenden Chemikalien verunreinigt wurden.
Wenn ein Wirkstoff ohnehin schon knapp ist, verkaufen die Hersteller die vorhandenen Bestände ausserdem bevorzugt an Länder, die bereit sind, mehr zu bezahlen. Deutschland geht in solchen Situationen oft leer aus.
Engpässe überall spürbar
Die Arzneimittelknappheit betrifft die unterschiedlichsten Wirkstoffe. "Vom gängigen Schmerzmittel bis hin zu Mitteln gegen Epilepsie oder Schilddrüsenerkrankungen, ja sogar Impfstoffe. Aktuell sind es über 200 Arzneimittel", so Thomas Metz vom Bayerischen Apothekerverband.
Ein Lieferengpass bei Arzneimitteln führe nicht zwangsläufig zu einem medizinisch relevanten Versorgungsengpass, betont das Bundesministerium für Gesundheit in einer angeforderten Stellungnahme. Denn oftmals können bestimmte Medikamente durch andere ersetzt werden.
Apotheken können nicht immer helfen
Die Vor-Ort-Apotheken tun viel, um die Probleme für die Patienten abzufedern. Das bedeutet laut von Waldenfels einen Mehraufwand von bis zu zehn Stunden pro Woche. Denn aufgrund der Rabattverträge ist beispielsweise das Ausweichen auf einen anderen Hersteller mit hohen bürokratischen Hürden verbunden. Bei einigen Vorgängen ist eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt vorgeschrieben.
Die zusätzlichen Bemühungen leisten die Apotheken zum Wohle der Patienten laut von Waldenfels gerne. Aber unangenehm sei es, dass es auch immer wieder vorkomme, dass die Apotheken gar nicht mehr weiterhelfen könnten. "Wirkstoffe wie Venlafaxin, Ranitidin oder Irbesartan gibt es beispielsweise bei uns zur Zeit gar nicht am Markt." Venlafaxin ist ein Arzneistoff, der bei Depressionen helfen soll, Ranitidin wird unter anderem bei Sodbrennen eingesetzt und Irbesartan senkt den Blutdruck.
Ausserdem erfüllen manche Alternativen vielleicht ihren Hauptzweck, sind aber für das Patientenwohl nicht gleich gut. Die Nebenwirkungen und die allgemeine Verträglichkeit können sehr unterschiedlich sein.
Beispielsweise war das Narkosemittel Remifentanil auch schon von Lieferengpässen betroffen. Krankenhäuser können zwar bei Operationen auf andere Wirkstoffe ausweichen. Dadurch verlängern sich jedoch die Aufwachzeiten der Patienten, sie sind anschliessend längere Zeit benommen.
Politik ist gefordert
Um die Missstände zu beheben, sehen die Apotheker vor allem die Politik in der Pflicht. Denn dass die Krankenkassen einen starken Preisdruck erzeugen, entspricht den Vorgaben des Gesetzgebers. "Das Achten auf ein wirtschaftliches Vorgehen ist im Sozialgesetzbuch festgeschrieben. Aus meiner Sicht ist daher der Staat in der Pflicht, die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass die Kassen die Freiräume haben, mehr Geld in die ordentliche Arzneimittelversorgung unserer Bevölkerung zu investieren", sagt von Waldenfels.
Metz fordert unterdessen, dass Krankenkassen Rabattverträge für Arzneimittel mit mindestens drei unterschiedlichen Herstellern abschliessen müssen. "So wäre es leichter möglich, bei einem Lieferengpass auf Präparate anderer Firmen auszuweichen."
Die Verbände und Kammern verlangen ausserdem die Reduzierung der Exporte von versorgungsrelevanten Arzneimitteln, bei denen Knappheit herrscht oder droht.
"Auf lange Sicht ist es sehr wichtig, dass die Politik Rahmenbedingungen schafft, damit die Wirkstoffproduktion wieder verstärkt in Europa stattfindet und entsprechende Qualitätsstandards eingehalten werden", so von Waldenfels.
Auf Medikamente angewiesen? Das sollten Sie tun
Nur bei Medikamenten, die über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, haben Patienten selbst die Möglichkeit, etwas für ihre Versorgungssicherheit zu tun. Die Apotheker raten ihnen, möglichst frühzeitig ein neues Rezept vom Arzt zu holen und ihren Vorrat nicht erst wieder aufzustocken, wenn die alte Packung fast aufgebraucht ist. So hätten Apothekerinnen und Apotheker mehr Zeit, sich im Falle von Lieferschwierigkeiten um eine Alternative zu kümmern.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Alexander von Waldenfels, Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesapothekerkammer
- Gespräch mit Thomas Metz, Pressesprecher des Bayerischen Apothekerverbandes
- Schriftliche Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit auf Anfrage der Redaktion
- Bundesministerium für Gesundheit: "Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV)"
- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: "Rückruf von ranitidinhaltigen Arzneimitteln"
- Robert-Koch-Institut: "Mitteilungen der STIKO zum Impfen bei eingeschränkter Verfügbarkeit von Impfstoffen"
- Paul-Ehrlich-Institut: "Lieferengpässe von Human-Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten"
- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: "Lieferengpässe für Humanarzneimittel"
- Ärztezeitung: "Arzneimittelknappheit schlägt auf Therapiesicherheit durch"
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