Innenminister Horst Seehofer hat seinen Widerstand aufgegeben: Eine wissenschaftliche Studie soll künftig Rassismus im Polizeiwesen untersuchen. Aber nicht nur das: Auch die Gesamtgesellschaft soll unter die Lupe genommen werden. Prof. Dr. Karim Fereidooni berät die Bundesregierung in Sachen Rassismus. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über das Spezifische am deutschen Rassismus und wie diesem begegnet werden kann.

Ein Interview

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Herr Fereidooni, wie gross ist das Problem Rassismus in Deutschland?

Karim Fereidooni: Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft: Die letzte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 verweist darauf, dass etwa 40 Prozent der Bundesbürger*innen rechtspopulistische Tendenzen aufweisen und reproduzieren. Das heisst jedoch nicht, dass sie allesamt ein geschlossenes rassistisches Weltbild besitzen.

Das schreibt man etwa 10 Prozent zu. Sie wünschen sich beispielsweise einen Führer zurück und möchten Juden und Muslime nicht die gleichen Rechte zusprechen.

"Rassismus beginnt mit der Konstruktion von Andersartigkeit"

Laut der genannten Studie sind rund 19 Prozent "fremdenfeindlich" eingestellt – weil sie Aussagen wie "Es leben zu viele Ausländer in Deutschland" zustimmen. Warum ist das fremdenfeindlich?

Rassismus beginnt mit der Konstruktion von Andersartigkeit. Es ist genauso rassistisch zu sagen 'Es leben zu viele Ausländer in Deutschland', wie es sexistisch ist, zu sagen 'Es gibt zu viele Frauen in Führungspositionen.'

Wenn man einer bestimmten Gruppe, die eigentlich gar keine monolithische Gruppe ist, eine Gruppenkonstruktion zuweist und dann die Deutungshoheit beansprucht, ihnen ihre Daseinsberechtigung abspricht, dann ist das rassistisch. Die meisten Menschen, die sich in Deutschland befinden, sind zudem keine Ausländer mehr. Sie sind hier aufgewachsen, geboren oder besitzen den deutschen Pass - werden aber zu Ausländer*innen gemacht, indem man sagt: 'Mohammed ist kein richtiger Deutscher, sondern Ausländer – obwohl er schon in der dritten Generation hier lebt.'

Nach dem Mord an George Floyd in den USA gingen auch in Deutschland viele Menschen auf die Strasse. Nach den Attentaten von Hanau waren die Reaktionen vergleichsweise verhalten. Warum reicht der hausgemachte Rassismus in Deutschland nicht für Proteste aus?

Es gibt seit Mitte der 1970er Jahre Demonstrationen, die sich gegen Rassismus richten, man denke etwa an die breiten Demonstrationen zu den NSU-Skandalen oder die Jahrestage der Solingen-Attentate. Die Tat wurde gefilmt, dadurch konnte man quasi bei dem rassistischen Tatgeschehen dabei sein. Das hat aufgerüttelt, und es gibt schliesslich Parallelen zur USA: Auch in Deutschland sterben Menschen in Polizeigewahrsam; etwa Oury Jalloh in Dessau oder Amad Ahmad in Kleve.

Gibt es einen spezifisch deutschen Rassismus?

Ja, denn der Nationalsozialismus strukturiert den Raum des Sagbaren vor. Wegen der NS-Vergangenheit wird die Forderung, auch die Mitte der Gesellschaft müsse sich mit Rassismus beschäftigen, immer wieder abgewehrt. Der Nationalsozialismus hat dazu geführt, dass man Rassismus mit Rechtsextremismus gleichsetzt.

Dann wird gesagt: 'Deutschland ist doch demokratisch und wir leben nicht mehr in der Zeit von 1933-45.' Dadurch wird Rassismus weiterhin tabuisiert und verhindert, dass Otto-Normalbürger*innen für sich anerkennen, dass es im Alltag Rassismus gibt. Natürlich haben wir keine Konzentrationslager mehr, es gibt keine Nürnberger Rassegesetze mehr und es gibt einen Unterschied zwischen Staats- und Alltagsrassismus – Rassismus hat sich aber verwandelt.

Rassismus im deutschen Alltag

Wo und wie kommt er im Alltag heute vor?

Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, spielen Ungleichheitsstrukturen eine Rolle: Ich habe beispielsweise mit dem Nachnamen Fereidooni schlechtere Chancen auf dem Wohnungsmarkt, weil mir Attribute zugeschrieben werden wie "laut", "schmutzig" oder "der kann sich die Wohnung sowieso nicht leisten".

Dieselbe Frau erhält auf dem Arbeitsmarkt weniger Einladungen, wenn sie sich mit einem Bewerbungsfoto mit Kopftuch bewirbt anstatt ohne, Grundschullehrerinnen bewerten dasselbe Diktat schlechter, wenn es von Murat stammt anstatt von Maximilian. In der Politik sorgt die AfD dafür, dass das Sagbare immer weiter nach rechts verschoben wird und bei der Polizei erleben wir Racial Profiling. Kein Berufsbild oder Gesellschaftsbereich ist gefeit vor Rassismus.

Im Tagesspiegel sagte die schwarze Therapeutin Rose Kapuya: "Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Weisssein die Norm ist. Wir sind alle rassistisch sozialisiert." Wenn in der Kita nach dem Hautfarbe-Stift gefragt werde, griffen Kinder beispielsweise sofort zum Rosa oder Beige. Stimmen Sie zu; sind wir alle rassistisch sozialisiert ?

Ja. Wir kommen nicht rassistisch auf die Welt, sondern erlernen es. Das geschieht, weil das scheinbar Normale nicht problematisiert wird. In allem, was wir wissen, steckt ein wenig Rassismus – schon in Kinderliedern und -büchern.

Dabei bringt Rassismus allen Menschen etwas bei: Menschen of Color und schwarze Menschen lernen: 'Ich bin weniger wert als andere Personen' und weisse Menschen lernen: 'Ich bin mehr wert als andere Personen.'

Ist es wichtig, zwischen verschiedenen Rassismen zu differenzieren?

Ja, denn nur so können wir über unterschiedliche Formen von Rassismus sprechen – Antisemitismus, Anti-Schwarzen Rassismus, Rassismus gegen Sinti und Roma (Gadje-Rassismus), Anti-Muslimischen Rassismus oder Anti-Asiatischen Rassismus. Denn beispielsweise gibt es auch in muslimischen Gemeinden anti-schwarzen Rassismus, um das zu erfassen, brauchen wir Spezifizierungen. Innerhalb einzelner Communities werden unterschiedliche Hierarchisierungen vorgenommen.

"Es gibt keinen umgekehrten Rassismus"

Gibt es auch Rassismus gegenüber Weissen?

Nein, es gibt keinen umgekehrten Rassismus. Rassismus wurde von weiss-christlichen Menschen erschaffen und ist somit ein weisses Phänomen. Die Traditionslinien des Antisemitismus, Anti-Schwarzen und Anti-Muslimischen Rassismus haben dazu geführt, dass sich weisse Menschen an die Spitze der Pyramide stellen.

Überall auf der Welt gilt Weiss-Sein als Norm, deshalb verkaufen sich auch Bleaching-Produkte in afrikanischen Staaten so gut. Es geht aber auch um die Macht, bestimmte Menschen überhaupt von der gesellschaftlichen Teilhabe auszugrenzen. Es waren weisse Menschen, die 'Rassen' erfunden und behauptet haben, dass 'weisse' Menschen in der Hierarchie über 'gelbe', 'rote' und 'schwarze Menschen' stünden.

Was heisst das?

Menschen of Color und schwarze Menschen haben nicht die Macht, um weisse Menschen systematisch auszuschliessen. Ich kann meine weissen Studierenden zwar in meinem Hörsaal situativ diskriminieren, wenn ich etwa sage, sie kriegen schlechtere Noten als meine schwarzen Studierenden.

Sobald wir aber den Hörsaal verlassen, kehren sich die Machtverhältnisse um: Mir glaubt niemand mehr, dass ich Professor bin und wenn ich mit dem Namen Fereidooni eine Wohnung haben möchte, habe ich schlechtere Karten als meine weissen Studierenden – obwohl ich viel mehr verdiene.

Sie beraten die Bundesregierung in Sachen Rassismus-Bekämpfung. Wo gibt es Nachholbedarf? Wo muss angesetzt werden?

Es gibt grosse Forschungslücken, die mit Wissensbeständen aufgefüllt werden müssen. Deshalb brauchen wir die Rassismus-Studie bei der Polizei. Nicht, um Polizei-Bashing zu betreiben, sondern um die Polizei-Arbeit besser zu machen. Rassismuskritische Trainings sind hier denkbar.

Welche Fragen sind denn noch ungeklärt, bevor man in Sachen Rassismus endlich in einen Handlungsmodus kommen kann?

Studien sind die Grundlage für Handlungsempfehlungen. Unterschiedliche Fragen sind ungeklärt: Beispielsweise sollte das Racial Profiling bei der Polizei genauer untersucht werden, aber auch die Frage, wie sich Wissensbestände nach Eintritt in den Polizeidienst verändern.

Das heisst: Die Polizeiausbildung ist im weltweiten Vergleich in unserem Land sehr gut. Das Problem ist: Junge Kollegen kommen auf die Wache und hören von älteren Kollegen: 'Vergiss mal, was du in der Ausbildung gelernt hast. Ich bringe dir bei, was es heisst, ein richtiger Polizist zu sein'. Ebenso muss der Alltag von beispielsweise Polizist*innen of Color besser untersucht werden.

"Rassismuskritik muss unterrichtet werden"

Was kann dennoch schon in der Praxis passieren?

Wir brauchen zum Beispiel für Schulen unabhängige Beschwerdestellen mit Weisungsbefugnissen. Sie sollten in den Schulministerien angesiedelt sein und Massnahmen wie Fortbildungen sowie Beratungen initiieren können. Aktuell geht jede Einzelschule nach Gutdünken mit dem Thema um, manche kehren es unter den Teppich.

Rassismuskritik muss unterrichtet werden – für Schüler und Lehrkräfte. Analog zu den Antisemitismus-Beauftragen sollten wir Stellen für Beauftrage gegen anti-muslimischen, anti-schwarzen Rassismus und Rassismus gegen Sinti und Roma schaffen.

Finden bisherige Anti-Rassismus-Projekte denn an den richtigen Stellen statt? In Berlin nehmen 38 Gymnasien am Projekt "Schule ohne Rassismus" teil, aber nur eine Hauptschule. Schliesslich gilt als immer wieder bestätigter Befund, dass mit steigendem Bildungsgrad fremdenfeindliche Einstellungen abnehmen.

Es gibt auch gegenläufige Studien, die besagen, dass Bildungsstatus und Rassismus nicht zusammenhängen. Rassismus ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen und salonfähig geworden.

Die Massnahmen müssen sich deshalb an alle Personengruppen richten, nicht nur an Menschen, die wenig verdienen. Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht das alleinige Problem von armen Menschen.

2019 zählte das Bundesinnenministerium 7.909 rassistische Straftaten - rund 3 Prozent mehr als im Vorjahr. Sehen Sie rechtlichen Handlungsbedarf - etwa härtere Strafen?

Ja. Vor allem aber kritisiere ich, dass "Deutschenfeindlichkeit" seit vergangenem Jahr eine Kategorie in der Polizeilichen Kriminalstatistik ist. Der Begriff führt in die Irre. Der Begriff meint zwar Straftaten, die sich gegen die deutsche Nationalität richten.

Wenn ich als Deutscher of Color – der für viele ein Ausländer ist – im Supermarkt diskriminiert werde, wäre das aber wohl keine Deutschenfeindlichkeit, obwohl ich den deutschen Pass besitze. Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Polizistinnen und Polizisten sollten in Bezug auf die Erkennung rassistischer Straftaten besser geschult werden.

Über den Experten: Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen. Er berät die Bundesregierung in dem Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sowie im Unabhängigen Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat.

Verwendete Quellen:

  • Mitte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018/2019: "Verlorene Mitte, feindselige Zustände":
  • Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und Bundeskriminalamt: "Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019"
  • Projektwebsite "Schule ohne Rassismus"
  • Tagesspiegel.de: 22. 09.2020: Schwarze Therapeuten in Deutschland: Wir sind alle rassistisch sozialisiert
  • Befunde zum Zusammenhang von Bildung und Rassismus (Auswahl)
  • Hopf, Fritz (1999): Ungleichheit der Bildung und Ethnozentrismus
  • Kleinert, Corinna; De Rijke, Johann (2001): Rechtsextreme Orientierungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen
  • Dissertation Prof. Dr. Karim Fereidooni: Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrer*innen ‚mit Migrationshintergrund‘ im deutschen Schulwesen. Eine quantitative und qualitative Studie zu subjektiv bedeutsamen Ungleichheitspraxen im Berufskontext
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