Jail Mail ermöglicht es, Briefkontakt zu Gefängnisinsassen in Deutschland und der Schweiz aufzunehmen. Wieso sollte man sich zu einer solchen Brieffreundschaft entschliessen? Und wie viel erfährt man vorab über die Vergangenheit der Häftlinge? Ein Interview mit der Verantwortlichen des Projekts.
Wer eine Gefängnisstrafe verbüssen muss, verliert bei Haftantritt nicht nur seine Freiheit, sondern oftmals auch den Kontakt zu Freunden oder der Familie. Gerade in Krisensituationen und schwierigen Lebenslagen sind soziale Kontakte jedoch von enormer Bedeutung.
Das weiss auch Lea Stolzenburg, sie steckt hinter dem ehrenamtlichen Projekt Jail Mail, einem Vermittlungsdienst für Brieffreundschaften zwischen Gefängnisinsassen und Menschen in Freiheit. Manche der durch Jail Mail vermittelten Kontakte überdauerten in der Vergangenheit bereits die Gefängniszeit und schafften den Übergang ins "echte Leben" – eine Brieffreundschaft endete sogar vor dem Traualtar.
Frau Stolzenburg, wann und wie wurde Jail Mail ins Leben gerufen?
Lea Stolzenburg: Jail Mail wurde erstmals 2005 ins Leben gerufen. Damals lief das Projekt allerdings noch ganz anders ab. Es wurden beispielsweise die Namen, die Adresse und Fotos der inhaftierten Personen veröffentlicht, weiterhin wurde Jail Mail von vielen auch als Dating-Seite genutzt. Während der Corona-Pandemie veröffentlichten einige Personen, die eine Brieffreundschaft via Jail Mail zu einem Insassen pflegten, ihre Briefe dann auf TikTok – obwohl das gegen das Briefgeheimnis verstösst und somit eine Straftat darstellt. TikTok ging dennoch nicht dagegen vor. Durch die enorme Reichweite dieser TikTok-Videos erreichte Jail Mail binnen kürzester Zeit Tausende von Anfragen. Der Druck und der Organisationsaufwand, der auf der damaligen Betreiberin lastete, nahmen dadurch enorm zu. Das führte schlussendlich dazu, dass Jail Mail im Februar 2021 nach insgesamt 16 Jahren eingestellt wurde. Ein enormer Verlust für alle Beteiligten: Jail Mail war und ist das einzige Projekt seiner Art in Deutschland und der Schweiz.
Wie ging es dann weiter?
Im August 2021 haben sich zwei Frauen dazu entschlossen, das Projekt unter gleichem Namen neu aufzuziehen. Die beiden schrieben daraufhin alle Justizvollzugsanstalten (JVA) in Deutschland an, insgesamt 172 Stück. Von keiner einzigen kam eine Antwort. Die damaligen Betreiberinnen haben dann kurzerhand Jail-Mail-Flyer gedruckt und sie über die Sozialarbeiter:innen in den Justizvollzugsanstalten verteilen lassen. So wurde das Projekt dann langsam bekannt – jedoch bei weitem nicht in allen Einrichtungen. Aus diesem Grund haben wir aus einigen Justizvollzugsanstalten sehr viele Inserate, aus anderen aber gar keine oder nur sehr wenige. Es wäre schön, wenn alle inhaftierten Personen von Jail Mail wüssten.
Neugründung in 2021: Alter Name, neues Konzept
Was hat sich durch die Neugründung verändert?
Es wurden viele Dinge grundlegend überdacht und geändert, sodass Jail Mail seither nur noch sehr wenig mit dem alten Projekt zu tun hat. Es werden beispielsweise keine Namen, Adressen oder Fotos der inhaftierten Personen mehr veröffentlicht, ausserdem wurden Kategorien wie "Er sucht Sie", "Sie sucht Ihn" etc. abgeschafft. Jail Mail ist heute keine Dating- oder Partnervermittlung mehr. Bei dem Projekt soll es ausschliesslich um die Vermittlung von platonischen Brieffreundschaften gehen, die über gleiche Interessen und nicht über Äusserlichkeiten zustande kommen – und das ist meist auch genau das, wonach die inhaftierten Personen und die Menschen "von draussen" suchen. Natürlich verbieten wir es nicht, wenn sich aus einer Freundschaft mehr entwickelt. Das können und wollen wir nicht kontrollieren. Es geht nur darum, dass es nicht das primäre Ziel von Jail Mail ist.
Und wann kamen Sie mit Jail Mail in Berührung?
Im März 2023 habe ich Jail Mail von den bisherigen Betreiberinnen übernommen. Die beiden hatten über eine soziale Plattform dringend nach jemandem gesucht, der das Projekt übernimmt.
Ich musste mir diesen Schritt gut überlegen, denn mit Arbeit, Studium und Privatleben war ich bereits gut ausgelastet. Doch Jail Mail hat mich total interessiert und einfach nicht mehr losgelassen. Meinem Freund Leo (22, Wirtschaftsinformatikstudent) ging es glücklicherweise genauso, er unterstützt mich tatkräftig bei der Organisation und Umsetzung des Projekts.
Haben Sie eine persönliche Verbindung zu dem Thema?
Als ich mich dazu entschieden habe, Jail Mail zu übernehmen, wusste ich ehrlich gesagt noch gar nichts über Gefängnisse und inhaftierte Personen. Ich wusste damals auch noch nicht, dass Briefe für viele die einzige Art der Kommunikation "nach draussen" sind. Mir war jedoch klar, dass Jail Mail ein Ende findet, wenn ich das Projekt nicht übernehme. Nach meiner Übernahme kam mir direkt eine Welle der Dankbarkeit von beiden Seiten ("drinnen" und "draussen") entgegen, die mich auch jetzt noch unfassbar motiviert. Es macht sehr viel Spass, die Briefe weiterzuleiten, Inserate einzustellen, sich Gedanken zu der Website zu machen und die vielen Briefe in den Briefkasten zu werfen – insbesondere mit dem Wissen, dass die Briefe stets mit einem Lächeln im Gesicht geöffnet werden.
Führen Sie auch eine Brieffreundschaft mit einem Gefängnisinsassen?
Leider lässt es die Zeit nicht zu, neben dem Projekt auch selbst eine Brieffreundschaft zu pflegen.
Begangene Straftaten des Briefkontakts vorab nicht bekannt
Kann theoretisch jeder eine Brieffreundschaft bei Jail Mail beginnen?
Bei Jail Mail gibt es keine Kriterien, die zum Ausschluss einer Brieffreundschaft führen. In Zukunft würde ich allerdings gerne die Regel einführen, dass man seine Volljährigkeit bestätigen muss, wenn man sich bei registriert, um eine Brieffreundschaft zu beginnen. Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass Minderjährige wissen, was mit einem solchen teils sehr intensiven Briefkontakt einhergeht.
Wird bei den Insassen in irgendeiner Weise "gefiltert" – beispielweise nach Vergehen?
Was vielen in den Sinn kommt, ist Sexualstraftäter:innen und Personen auszuschliessen, die Delikte an Kindern begangen haben. Ich finde das aber schwierig. Einerseits wissen wir bei Jail Mail nicht, welche Straftaten eine Person begangen hat. Selbst wenn uns Inhaftierte von Ihrer Tat erzählen würden, könnten wir ihre Aussagen nicht auf Richtigkeit überprüfen. Andererseits glaube ich auch an das Ziel der Resozialisierung, zu dem Jail Mail massgeblich beitragen will – und das bedeutet, dass jede Person die gleiche Chance bekommen muss, zu beweisen, dass sie gesellschaftliche Normen und gültiges Recht (wieder) anerkennt. Man muss sich bei allen Menschen gleich viel Mühe geben, sie erneut in die Gesellschaft zu integrieren. Weiterhin ist es Aufgabe des Strafvollzugs, dass Gefangene nach ihrem Gefängnisaufenthalt wieder in der Lage sind, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Dafür sind der Erhalt und der Aufbau sozialer Beziehungen äusserst wichtig. Leider brechen bei der Inhaftierung bestehende Kontakte zu Freunden und der Familie aus diversen Gründen oft ab. Eine solche Isolation ist aber kontraproduktiv für die Resozialisierung. Darum ist es wichtig, bestehende Kontakte aufrechtzuerhalten und neue zu finden, unabhängig davon wer man ist oder welche Straftat man begangen hat.
Freundschaften statt Liebesbeziehungen im Fokus von Jail Mail
Bei Jail Mail können Insassen angeben, von welchem Geschlecht sie kontaktiert werden wollen. Sollte das bei einer platonischen Brieffreundschaft nicht egal sein?
Die Auswahlmöglichkeit resultiert aus dem früheren Projekt, das ja noch sehr auf Dating- und Partnervermittlung ausgelegt war. Deshalb hält sich das Gerücht, dass alle Inhaftierten bei Jail Mail die Frau oder den Mann fürs Leben suchen, so hartnäckig. Dabei gibt es so viele Personen in Haft, die einsam und isoliert sind und sich einfach nur nach sozialem Kontakt sehen. Sollte jemand tatsächlich via Jail Mail auf der Suche nach "Mehr" sein, schliessen wir diese Person aber natürlich dennoch nicht von dem Projekt aus. Die Inserate dürfen aber keine Wunschvorstellungen vom Brieffreund oder der Brieffreundin beinhalten.
Haben Sie Kenntnis von Brieffreundschaften, die in einer Liebesbeziehung geendet sind?
Es kommt wahrscheinlich hin und wieder vor, dass sich auch Liebesbeziehungen aus den Freundschaften ergeben. Ich kenne eine Person, die ihren Mann, mit dem sie auch eine Familie gegründet hat, über Jail Mail kennengelernt hat. Allerdings haben die beiden sich noch über das "alte" Jail Mail kennengelernt, bei dem es noch Kategorien wie "Er sucht Sie" gab.
Kommt es vor, dass Gefängnisinsassen von ihren Brieffreundinnen oder Brieffreunden im Gefängnis besucht werden?
Das kommt tatsächlich gar nicht mal so selten vor! Es ist natürlich nicht der Anspruch, dass die Freundschaft irgendwann über Briefe hinausgeht, aber wir freuen uns immer sehr, wenn die inhaftierten Personen besucht werden und man sich "im echten Leben" kennenlernt. Es gab beispielweise Mal einen Fall, wo ein Gefängnisinsasse mich kontaktiert und darum gebeten hat, sein Inserat auf Jail Mail zu löschen. Er hatte über Jail Mail jemanden kennengelernt, der ihn regelmässig in der JVA besucht, bei wichtigen Terminen begleitet, beim Ausfüllen von Papierkram unterstützt und ihm einfach eine richtig gute Freundin ist. Deshalb suche er nicht mehr nach weiteren Freundschaften. Das hat mich natürlich sehr gefreut, dass sich eine so tiefe Freundschaft durch das Projekt entwickeln kann.
Hat sich ein ehemaliger Insasse nach seiner Entlassung bei Ihnen persönlich für Ihre Arbeit bei Jail Mail bedankt?
In persona bin ich noch nie einem Jail-Mail-Mitglied begegnet, aber Dank erhalte ich sehr oft per Brief – von beiden Seiten. Manchmal sind es kleine Gedichte, manchmal hat mir jemand auch schon etwas gebastelt. Oft bedanken sich die inhaftierten Personen auch, wenn sie ihre Anzeige auf Jail Mail verlängern. Dann berichten sie auch ab und zu von schon entstandenen Freundschaften und beschreiben, was für eine grosse Bedeutung unsere Arbeit für sie hat. Das motiviert immer wieder aufs Neue.
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Zur Person
- Lea Stolzenburg ist 22 Jahre alt und studiert Sozialwissenschaften (Soziologie und Politikwissenschaft) im Master in Berlin. Seit März 2023 betreibt die Studentin das ehrenamtliche Projekt Jail Mail.
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