• Das Ausmass des sexuellen Missbrauchs im katholischen Bistum Münster ist einer unabhängigen Studie zufolge deutlich grösser als bisher bekannt.
  • Aus den Akten des Bistums ergibt sich sich eine Zahl von 610 Missbrauchsopfern und damit mehr als ein Drittel mehr als in einer 2018 präsentierten Studie der Bischofskonferenz.
  • Die Studienmacher berichten von zum grossen Teil massiven Missbrauchstaten mit erheblichen psychischen Folgen für die Opfer.

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Das Ausmass des sexuellen Missbrauchs im katholischen Bistum Münster ist einer unabhängigen Studie zufolge deutlich grösser als bisher bekannt. Aus den Akten des Bistums ergebe sich eine Zahl von 610 Missbrauchsopfern und damit mehr als ein Drittel mehr, als in der 2018 präsentierten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz erfasst wurden, teilten die Wissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) am Montag mit.

Zur Frage, was ihn am meisten überrascht habe, sagte der Historiker Thomas Grossbölting: "Wie viele doch über die Jahre von den Missbrauchsfällen etwas gewusst haben." Das Wissen zog sich über Bischöfe, Personalverantwortliche und christliche Laien bis hin zu Staatsanwälten. Im Auftrag des Bistums Münster hat Grossbölting in einem Fünfer-Team mehr als zwei Jahre an einer Studie zu sexuellem Missbrauch gearbeitet. Dabei ging es nicht nur um die Frage, wie viele Fälle es in dem Bistum zwischen 1945 und 2020 gab, sondern auch darum, ob die Kirche Mitschuld trägt.

"System Kirche" als Täter, Sexualmoral habe Verbrechen begünstigt

Und ja, das System Kirche sei als Täter aufgetreten, ist Grossbölting überzeugt. Der Priester als Kleriker sei in der katholischen Kirche überhöht und als geweihter Nachfolger Christi quasi als Heiliger dargestellt worden.

"Die Gottes- und Nächstenliebe wurde pervertiert", sagt Grossbölting bei der Vorstellung der Studie am Montag. Gerade junge Missbrauchsopfer zwischen 10 bis 14 Jahren, oft Messdiener, kamen gegen das System nicht an. Ihnen wurde nicht geglaubt. Viele waren traumatisiert, sprachen erst nach vielen Jahren.

Auch im System der Bistumsleitung sehen die Forscher ein massives Problem. Bischöfe sollten Richter, Vorgesetzter und Seelsorger gleichzeitig sein. Das habe fatale Folgen gehabt. Auch die katholische Sexualmoral habe Verbrechen begünstigt.

Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer ist demnach deutlich höher als bekannt. Demnach gab es im Bistum Münster in den 75 Jahren annähernd 200 Kleriker, die sich schuldig machten, und mindestens 610 minderjährige Opfer. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscherinnen und Forscher gehen von 5.000 bis 6.000 Opfern aus.

Missbrauchsfälle: Jahrzehntelanges Versagen in Bistumsleitung und Strafvereitelung

Grossbölting widersprach zudem der Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Missbrauchsfälle habe es flächendeckend in allen Dekanaten des Bistums auf seinem Gebiet in Nordrhein-Westfalen und rund um Vechta im Oldenburger Münsterland (Niedersachsen) gegeben. Viele hätten davon gewusst, sagte Grossbölting. Er sprach von Vertuschung.

Nachweisen konnten die Forscher jahrzehntelanges Versagen in der Bistumsleitung und Strafvereitelung in verschiedenen Fällen. Dabei standen die drei Bischöfe Joseph Höffner (Amtszeit: 1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) im Mittelpunkt.

Immer wieder wurden straffällig gewordene Priester nur versetzt - und wieder zu Tätern. Bei anderen setzte sich die Bistumsleitung bei der Staatsanwaltschaft ein. Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, Gerichtsverfahren zur Farce. Ein Täter floh nach Südamerika. Ein anderer setzte sich nach Österreich ab.

Kritik am jetzigen Bischof im Bistum Münster

Dem jetzigen Bischof Felix Genn werfen die Forscher vor, als Vorgesetzter gegenüber reuigen Tätern nicht die nötige Strenge gezeigt zu haben. Genn will sich zu der Studie erst am Freitag näher äussern. Grobölting lobte aber bereits die Zusammenarbeit. Sein Team habe wie versprochen unabhängig arbeiten können. Neben der Auswertung der Aktenarchive führten die Wissenschaftler Interviews mit mehr als 60 Betroffenen.

Einen Tag vor der offiziellen Präsentation wurde die Studie einigen Opfern vorgestellt. Bei der Übergabe des Gutachtens kündigte Genn nun schon weitere Konsequenzen an. "Das ist für mich eine Verpflichtung, an der ich mich messen lassen möchte", sagte der Bischof ganz knapp. Am Freitag willl er mehr dazu sagen. (dpa/okb)

Wenn Sie selbst von sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" 0800/225 5530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01/3340 437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031/3131 400 (Schweiz).

Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.

Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".

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