Kinder dürfen nicht arbeiten, soweit der gängige Konsens. Nicht nur in Europa. Im Buch "Kinderarbeit - Ein Tabu" stellt Georg Wimmer unbequeme Fragen und lässt die antworten, die es am besten wissen: die Kinder. Wir haben mit dem Salzburger Autor gesprochen.

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Zu Anfang eine philosophische Frage: Was ist Arbeit?

Georg Wimmer: Arbeit ist relativ klar definiert. Sie ist entweder die Beteiligung an der Herstellung eines Produkts oder an einer Dienstleistung. Ob Hausarbeit auch Arbeit ist, war lange in Frage. Mittlerweile sind sich alle einig, dass Hausarbeit auch Arbeit ist - und kein natürliches Bedürfnis von Frauen, wie das oft unterstellt wurde.

Die Frage lässt sich ausweiten: Ist auch Schule Arbeit? Einige Autoren sagen, Kinder müssen in der Schule so viel tun, da steckt auch Arbeit drin. Das ist aber eine Minderheitenmeinung. Die meisten Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass die Ausbildung in der Schule der Herausbildung der eigenen Fertigkeiten dient und das ökonomische Interesse zunächst zweitrangig ist.

Noch vor einigen Jahrzehnten war es auch bei uns gerade am Land gang und gäbe, im elterlichen Betrieb mitzuhelfen. Wann hat sich in Europa das Bild von arbeitenden Kindern ins Negative verschoben?

Relativ früh. Das negative Bild, das sich bis heute eingebrannt hat, bezieht sich auf die Fabriksarbeit. In Deutschland zum Beispiel war die Arbeit in der Landwirtschaft nicht nur gewollt, sondern lange normaler Bestandteil. Es gab erst in den 1960er-Jahren ein Gesetz.

Vor allem in Lateinamerika organisieren sich Buben und Mädchen in gewerkschaftsähnlichen Organisationen. Sie fordern ein Recht, unter würdigen Bedingungen zu arbeiten.

Würdige Bedingungen enthalten eine altersgerechte Arbeit, einen gerechten Lohn, dass man nicht zu lange oder zu schwer arbeitet. Diese Faktoren sind immer der Knackpunkt, wo die Grenze zur Ausbeutung liegt. Wenn wir bei uns von Kinderarbeit reden, denken wir die Ausbeutung immer mit. Dass Kinder arbeiten könnten und das kein Problem sein könnte, daran denken wir gar nicht mehr.

Welche Stolpersteine legt man ihnen in den Weg?

In Lateinamerika wie auch andernorts geht es um Bezahlung und Ausmass der Arbeit. In weiterer Folge sind Kinder, die arbeiten, immer wieder durch herrschende Gesetze verschiedensten Formen der Repression ausgesetzt.

Das heisst, es geht weniger drum, dass man ihnen nicht zugesteht, sich zu organisieren und Dinge zu fordern, sondern das Durchsetzen der Bedingungen ist schwierig.

In ihrer Organisation werden sie nicht behindert, in der Regel aber auch kaum gefördert. Die Schwierigkeit ist, im öffentlichen Raum zu arbeiten. Auch in Lateinamerika hat sich das Kindheitsbild gewandelt. Es herrscht die Meinung vor, Kinder sollen nicht arbeiten und schon gar nicht im öffentlichen Raum, sprich: in den Strassen, auf den Plätzen.

Kinder, die arbeiten, werden auch als Abbild der Armut gesehen, als der Ausdruck von Unterentwicklung, als ein Sinnbild für Ausbeutung. In Städten, wo es Tourismus gibt, ist gleich die Polizei bei der Hand, um die Kinder zu vertreiben - vorrangig mit dem Argument, dass man sie schützen möchte. In repressiven Regimes, die es ja nach wie vor gibt, sind die Kinder - wenn sie in Kontakt mit der Polizei kommen - aber grossen Gefahren ausgesetzt.

Gehen vorrangig Kinder aus ärmeren Familien arbeiten, oder organisieren sich auch Kinder, deren Familien über etwas Geld verfügen und die sagen, wir möchten trotzdem das Recht haben, uns etwas dazuzuverdienen?

Der Aspekt des Dazuverdienens, also die Taschengeldvariante, die ist tatsächlich nicht zu vernachlässigen. In vielen Familien können sich die Eltern das Nötigste zum Leben verdienen, sie können den Kindern aber keine Markenschuhe oder ein tolles Hemd, ein Handy oder Computerspiele kaufen. Wenn die Kinder das möchten, dann sind sie auf sich selbst angewiesen. Da kommt die Arbeit ins Spiel.

Generell ist zu sagen: Armut ist natürlich ein Faktor für Kinderarbeit. Es gibt quasi keine Studie, die nicht auf Armut als Ursache verweisen würde. Das betrifft vor allem Familien, die in der Landwirtschaft arbeiten. Weltweit geht man davon aus, dass zwei Drittel der Kinder, die arbeiten, das in der Landwirtschaft tun - in der Regel an der Seite ihrer Eltern. Um Produktionsvorgaben zu erfüllen, um bei der Ernte zu helfen, bei der Aussaat etc.

Bis zu zehn Stunden Arbeit neben dem Schulbesuch gelten als machbar - egal, ob zu Hause oder in einem Betrieb. Bleibt es in Ländern, in denen viele Kinder arbeiten, tatsächlich dabei?

Ganz schwer zu sagen, weil alle Untersuchungen nur Stichproben sind. Die Kinder werden an einem Tag befragt, und das wird umgelegt aufs Jahr. Meine Erfahrung aus vielen Reisen und vielen Gesprächen hat gezeigt, dass Kinder oft sehr punktuell arbeiten: einmal, weil sie ein bestimmtes Ziel haben, sich eine Sache leisten zu können. Ein anderes Motiv sind vorübergehende Notstände in der Familie. Da wird zwei, drei Wochen gearbeitet, um das Geld für eine Anschaffung oder eine medizinische Behandlung zu verdienen. Oder auch, um sich das Schulgeld zu verdienen. Da kann es sein, dass Kinder zwei, drei Tage im Monat genau dafür arbeiten.

Ich glaube nicht, dass es der Normalzustand ist, dass Kinder das ganze Jahr hindurch sehr regelmässig arbeiten. Das ist aber nur eine Annahme. Es gibt immer Ausschläge nach oben oder unten.

Was unterscheidet "ausbeuterische Kinderarbeit" von anderer Kinderarbeit? Wo fängt Ausbeutung an?

Ausbeutung fängt an, wenn Kinder nicht bezahlt werden, wenn die Arbeit unfreiwillig ist, wenn zu lange gearbeitet wird, zu schwer, zu monoton. Das sind Kriterien für Ausbeutung.

Was kann ich als Konsument gegen ausbeuterische Bedingungen mancher Hersteller tun?

Ich würde die Produzenten in die Verantwortung nehmen beziehungsweise die Marken: Kik, Adidas, Puma... und die fragen, ob sie würdige Löhne zahlen, von denen Menschen leben können. Das ist die entscheidende Frage.

Vor kurzem gab es in Deutschland eine Fernsehdiskussion, in der es um Löhne in der Textilindustrie ging . Und es war kein Vertreter einer Markenfirma bereit, sich in ein Fernsehstudio zu setzen. Wenn es um Kinderarbeit geht, sind die alle da, weil sie da ein reines Gewissen haben: "Bei uns gibt es keine Kinderarbeit, wir haben unseren Code of Conduct", unsere Regeln. Bei den Löhnen werden die alle den Schwanz einziehen. Warum? Weil es um ökonomische Interessen, um Gewinnspannen geht.

Im Grunde ist Kinderarbeit also nur die Spitze des Eisbergs. Dass deren Eltern von den Löhnen nicht leben können, kehrt man unter den Teppich?

Genau. Wenn man in Kambodscha einen Monatslohn von 35 oder 40 Euro hat, dann können beide Elternteile arbeiten und kommen auf keine 80 oder 100 Euro. Das Leben dort ist auch nicht so billig. Dann muss man sich fragen: Wer macht denn zuhause die Arbeit? Diese Eltern haben eine 60-Stunden-Woche. Irgendjemand muss zuhause auf die kleineren Geschwister aufpassen, die Wäsche waschen und ähnliches.

Sie sind für dieses Buch viel gereist, haben Eltern, Lehrer, Politiker getroffen, mit Psychologen und Soziologen - und natürlich mit Kindern gesprochen. Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders berührt hat?

(Überlegt) Viele. Ein Schicksal, das mich sehr berührt hat, war ein Mädchen. Sie dürfte auch so zwölf Jahre alt gewesen sein. Sie hat Kaugummis verkauft in der Nacht. Sie ist in Tränen aufgelöst in einer dunklen Strasse auf Stufen gesessen. Ich habe sie angesprochen. Es hat sich herausgestellt, dass sie umgerechnet 50 Cent verloren hat. Sie war verzweifelt.

Ich habe später mit ihr Kontakt aufgenommen und auch mit ihren Eltern länger gesprochen. Sie hat gesagt, sie mag überhaupt nicht arbeiten und schon gar nicht in der Nacht. Sie hat sich auch gefürchtet. Ich habe sie gefragt: "Was wäre in deinem Leben anders, wenn du nicht arbeiten würdest." Und sie hat gesagt: "Wir würden vor Hunger sterben." Das war eine ganz verzweifelte Situation, und es ist nicht so, dass alle Kinder gerne arbeiten. Das würde ich niemals behaupten. Aber es ist für sie im Zweifel oft die bessere Option.

Was wünschen Sie sich nach all Ihren Erlebnissen: Was soll sich im Hinblick auf Kinderarbeit ändern?

Zwei Punkte. Das eine ist der Respekt gegenüber den Kindern, dass man ihre Leistung anerkennt. Dass man sieht, dass die was tun, dass sie engagiert sind, ihre Familien weiterbringen. Und in der Folge auch das Verbot überdenkt. Ich denke, dass das Verbot den Kindern mehr schadet, als es ihnen hilft, weil es sie in ihren Möglichkeiten einschränkt. Wir haben genug Gesetze. Wir haben eine Schulpflicht, die dazu führt, dass Kinder für Fabriken oder ähnliches eh nicht zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite haben wir Gesetze gegen Verbrechen wie Kinderprostitution, alle Grausligkeiten, die da immer assoziiert werden - gegen die gibt es eh Gesetze. Das heisst, ich brauche nicht noch eigens die Kinder zu verfolgen, die arbeiten.

Der zweite Punkt ist, dass in den Ländern des Südens Bildung mit einer gewissen Qualität geboten wird. Die Schulen in diesen Ländern sind in einem jämmerlichen Zustand, und wir tun immer so, als müsste man nur brav zur Schule gehen und dann ist alles gelöst. Das stimmt nicht. Die Schulen sind schlecht, die Lehrer sind schlecht ausgebildet, die Kinder werden dort nicht respektiert, zum Teil misshandelt. Das heisst, ich wünsche mir eine qualitativ hochwertige Bildung, die diesen Namen auch verdient.

Georg Wimmer hat Psychologie und Spanisch studiert. Er war als Journalist für Tageszeitungen und Magazine tätig und wurde für seine Radiofeatures mehrfach ausgezeichnet. Derzeit ist er freier Journalist und Mitarbeiter der Plattform für Menschenrechte Salzburg. Im März 2015 ist sein Buch "Kinderarbeit - Ein Tabu. Mythen, Fakten, Perspektiven" im Mandelbaum-Verlag erschienen.
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