Neuneinhalb Jahre muss ein 37-Jähriger ins Gefängnis, weil er einen schweren Betonpflasterstein auf die A7 geworfen und so eine vierköpfige Familie schwer verletzt hat. Was treibt einen Menschen zu so einer Handlung - mit der er in Kauf nimmt, zum Mörder zu werden?
Vor dem Landgericht Ellwangen ist am Dienstag der Prozess gegen einen 37-Jährigen zu Ende gegangen. Das Urteil: Neuneinhalb Jahre Haft wegen versuchten Mordes.
Der Mann hatte im September 2016 in Baden-Württemberg einen schweren Betonpflasterstein auf die A7 geworfen. Der Wagen einer vierköpfigen Familie fuhr über den Stein, überschlug sich mehrfach.
Ein Kind wurde aus dem Auto geschleudert, alle vier wurden schwer verletzt. Die Mutter ist bis heute teilweise gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.
Attacke aus Frust
Leider ist das Phänomen des Steinewerfens auf Autobahnen nicht neu, der Fall von der A7 nicht der einzige.
Bereits seit Jahrzehnten kommt es immer wieder auch in Deutschland zu ähnlichen Vorfällen, oftmals mit tödlichem Ausgang. Eine der schlimmsten Taten ereignete sich im Februar 2000 in Darmstadt. Damals töteten drei amerikanische Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren durch Steinwürfe auf Autos zwei Frauen und verletzten fünf weitere Personen. Die Täter wurden später wegen versuchten Mordes zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Eine ähnliche Attacke sorgte bereits am Ostersonntag 2008 bundesweit für Schlagzeilen. Damals warf der 31-jährige heroinabhängige Nikolai H. einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg. Eine 33 Jahre alte Mutter wurde vor den Augen ihres Mannes und ihrer beiden Kinder erschlagen.
Der Täter soll aus Frust gehandelt haben, weil es ihm an diesem Tag nicht gelungen sei, an Heroin zu kommen. Er wurde später zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes, dreifachen versuchten Mordes und vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Strassenverkehr verurteilt.
Spontane Taten ohne konkretes Motiv
Für die schreckliche Tat gab es kein nachvollziehbares Motiv. Nikolai H. soll aus einer spontanen Eingebung heraus gehandelt haben und damit einem Muster gefolgt sein, das für fast alle derartigen Taten gilt - und von Kriminalpsychologen immer wieder ähnlich beschrieben wird.
"Ich kenne keinen Fall in den 40 Jahren, die ich die Polizei beraten habe, in dem sich ein Täter vorgenommen hat: Jetzt gehe ich zu der Brücke und werfe etwas herunter. Es sind reine Gelegenheitstäter", sagte der langjährige Münchner Psychologe Georg Sieber nach der Holzklotz-Attacke von Oldenburg in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.
Die Täter handelten zudem in der Regel ohne Tötungsabsicht. "Sie bringen die Autos, die unter der Brücke herfahren, nicht mit den Menschen in Verbindung, die darin sitzen. Die Autos sind für sie nur Gegenstände". Auf die Frage, warum sie überhaupt werfen, antwortete Sieber damals mit der simplen Feststellung, "Gelegenheit macht sie zum Täter. Etwa, weil in der Nähe ein Stein herumliegt".
So unvorstellbar es klingt: Die Attacken, bei denen immer wieder Menschen zu Tode kommen, passieren oft aus einer Laune heraus, eher zufällig.
Erlebnishunger und Mutproben
"Im Grunde erfolgen diese Taten spontan, meistens im Zusammenhang mit Alkohol", sagte auch der Kriminalpsychologe Andreas Mokros 2008 im Gespräch mit der "Augsburger Allgemeine". Damals hatte ein Unbekannter bei Vilsbiburg im Kreis Landshut einen Stein von einer Brücke auf ein fahrendes Auto geworfen und getroffen. Der Fahrer und der Beifahrer kamen mit dem Schrecken davon.
Die Täter seien fast immer Jugendliche, sagte Mokros damals, häufig sogar in Gruppen. "Da kann es dann zu einer Art Mutprobe kommen".
Von einer konkreten Tötungsabsicht geht auch er bei den meisten derartigen Taten nicht aus, vielmehr vermutet er eine Art Erlebnishunger, der die Täter antreibe.
Das unterscheide derartige Anschläge fundamental von politisch motivierten Attentaten. "Steinewerfer haben keine Botschaft wie ein Amokläufer", sagte der Kriminalpsychologe.
Es sei eine Mischung aus Spontaneität und Enthemmung, die zu Taten mit schrecklichen Konsequenzen führen könne. Das bestätigt auch die ADAC-Verkehrspsychologin Nina Wahn.
Es geht um kurzfristigen Lust- und Machtgewinn
"Im Jugendalter liegt solchen impulsiven und destruktiven Verhaltensweisen häufig der Wunsch nach Abgrenzung zugrunde. Auch mangelnde Fähigkeit zur Selbstkontrolle kann ein Grund sein", erklärte Wahn im August im Gespräch mit unserer Redaktion.
Gefühle wie Frust oder Benachteiligung könnten nicht angemessen kompensiert werden. Beim Brechen von sozialen und moralischen Tabus "geht es den Tätern häufig um kurzfristigen Lust- und Machtgewinn, ohne dass sie die schrecklichen Konsequenzen ihres Handelns ausreichend bemessen können", glaubt Wahn.
Eben diese Kombination aus Spontaneität und Motivlosigkeit, aus der heraus solche Taten oft begangen werden, macht es so schwer, sie zu verhindern. Es erscheint nicht möglich, alle Autobahnen in Deutschland komplett abzusperren - und Steine, Gulli-Deckel und Holzpflöcke im Umfeld von Brücken zu sichern.
Auch gäbe es für die Autofahrer praktisch keine Möglichkeit, sich wirksam zu schützen, sagt eine Sprecherin des ADAC unserer Redaktion. "Auf keinen Fall sollten Autofahrer jetzt hektisch bremsen oder ausweichen, sobald sie jemand auf einer Brücke sehen", das könnte im Zweifel zu noch mehr schlimmen Unfällen führen.
Und: Trotz allem sei die Zahl der Attacken im Verhältnis zum Verkehrsaufkommen äusserst gering.
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