Albanien plant die Errichtung eines muslimischen Zwergstaates nach dem Vorbild des Vatikans. Ministerpräsident Edi Rama und der Bektaschi-Orden wollen damit einen Ort der religiösen Toleranz schaffen. Aber ist damit ein echtes Projekt verbunden oder handelt es sich vielmehr um Publicity des machtbewussten Premiers?

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Edi Rama ist eine auffallende Persönlichkeit. Das liegt zunächst vor allem an seiner Körpergrösse. Mit fast zwei Metern überragt der ehemalige Basketballer andere Staats- und Regierungschefs bei weitem. Dann ist da noch seine Exzentrik. Der albanische Ministerpräsident trägt am liebsten weisse Turnschuhe, unter dem Jacket auch mal ein T-Shirt.

Als Künstler stellt er regelmässig aus. Sein Amtszimmer als albanischer Ministerpräsident ist gleichzeitig sein Atelier. Während Sitzungen fertigt er Skizzen an. Als Bürgermeister von Tirana liess er Anfang der 2000er-Jahre Strassenzüge farblich neu gestalten.

Edi Rama weiss, wie man sich in Szene setzt.

Edi Rama plant Mini-Staat

Auch sein neuester Plan hat es in sich. Rama will in Albaniens Hauptstadt einen Mini-Staat nach Vorbild des Vatikans gründen. Ähnlich wie das geistliche Zentrum des Katholizismus, das 1929 als souveräner Staat in Rom entstanden ist, soll in Tirana der neue souveräne Staat des Bektaschi-Ordens entstehen. Ein Mini-Staat im Staate, ungefähr elf Hektar gross und damit kleiner als der Vatikan, der mit 44 Hektar aktuell der kleinste Staat der Welt ist. Die Pläne sind noch unkonkret, aber die Idee ist, dass dieser Staat autonom und mit Strahlkraft in die gesamte muslimische Welt für einen toleranten Islam wirbt ähnlich wie der Vatikan für den Katholizismus.

Dieser "Mini-Vatikan" soll von der Glaubensgemeinschaft der Bektaschi geführt werden, einem islamischen Sufi-Orden. Die Sufis sind eine Gruppe innerhalb des Islam, die den Fokus auf Spiritualität und Mystik legen. Sie erinnern in ihrer Auslegung des Islam eher an buddhistische Mönche, pflegen einen asketischen Lebensstil und glauben an die Einheit alles Existierenden.

Die Bektaschi sind eine Ausnahmeerscheinung

Die Bektaschi sind ein traditionsreicher Orden, der aus dem Osmanischen Reich, der heutigen Türkei, kommt. Der Orden war dort im 19. Jahrhundert sehr einflussreich, ist in der modernen Türkei aber nicht mehr zugelassen. Daher ist das Zentrum der Bektaschi nun in Albanien.

Konrad Clewing, Albanien-Experte des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropa-Forschung, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Die albanischen Bektaschi stehen stark dafür, dass sie eine Offenheit gegenüber dem dortigen Christentum pflegen, sowohl gegenüber dem Katholizismus als auch der Orthodoxie."

Rama befürchtet Aussterben der Bektaschis

Das bereits bestehende "Weltzentrum" des Ordens in Tirana soll nun auf Initiative von Rama in einen Staat transformiert werden, dieser soll laut Ramas Erklärung auf "X" "der Bewahrung und Bereicherung des unbezahlbaren Schatzes an Toleranz und religiöser Harmonie dienen, für die der neben den anderen drei Glaubensrichtungen unersetzliche Bektaschi-Orden seine Verdienste und Rolle hat". Gemeint sind hier neben dem in Albanien vorherrschenden sunnitischem Islam auch das orthodoxe Christentum und der Katholizismus.

Rama sieht die Bektaschi als Vertreter des kulturellen Erbes der albanischen Nation. Er befürchtet, dass diese tolerante Gemeinschaft aussterben könnte, da die Mitgliederzahlen ihm zufolge zurückgehen. Mit seinem Plan will er die "Gefahr einer Schrumpfung dieser Gemeinschaft bis hin zur Auflösung im Laufe mehrerer Jahrzehnte erheblich verringern".

Bektashi World Center in Tirana
Ein Blick auf das Bektaschi-Weltzentrum in Tirana. Es ist der internationale Hauptsitz des Bektaschi-Sufi-Ordens. © IMAGO/NurPhoto

Handelt es sich um mehr als nur Publicity?

Erstmals hatte Edi Rama seine Idee beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen Ende September in New York vorgestellt. Edmond Brahimaj, Anführer des Bektaschi-Ordens, begrüsste die Initiative und erklärte, dass diese eine neue Ära der religiösen Toleranz einläutet.

Allerdings gibt es auch kritische Stimmen. Der Politologe Ardian Hackaj erklärte gegenüber dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland" er erkenne eine "gewitzte Kommunikationsstrategie", die in einer Welt von Krieg und Konflikt ihr Ziel nicht verfehle. "Hier wird Albaniens Image als religiös tolerantes Land gestärkt." Gleichzeitig könne der Eindruck entstehen, Edi Rama wolle von den jüngsten Protesten gegen seine Politik ablenken.

Im kommenden Jahr soll in Albanien gewählt werden und die Opposition wirft Rama vor, nicht in der Lage zu sein, die Wahlen ordnungsgemäss und neutral abzuhalten. In den vergangenen Wochen kam es bei Demonstrationen immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstössen zwischen Vertretern der Opposition und Sicherheitskräften.

Handelt es sich also nur um Publicity des schillernden Politikers oder ist der geplante Mini-Staat wirklich eine Initiative, die auf die Weltgemeinschaft der Muslime ausstrahlen könnte?

Was würde ein Weltzentrum in Tirana für den Islam bedeuten?

Laut Clewing ist es fraglich, ob diese spezielle Richtung des Islam wirklich repräsentativ ist und ein Zentrum der Bektaschi in Tirana in die Welt hinaus strahlen würde. Er hält das Projekt für ein eher albanisches Thema, das mit den Belangen vor Ort zu tun hat und nicht mit der grossen Weltpolitik.

"Für den Weltislam, der überwiegend sunnitisch ist, würde so ein dezidiert auf einen moderaten Islam ausgerichtetes Weltzentrum in Albanien eher provozierend wirken." Die Auslegung des Islam durch die Bektaschi sei sehr speziell und nicht repräsentativ für die Mehrheit der Muslime.

Die Zugehörigkeit zu den Bektaschi sei auch nicht so einfach zu klären wie beim Katholizismus. Zum einen gebe es die Mönche, die klar zugehörig sind. Aber diejenigen, die sich als Gläubige im Sinne der Bektaschi beschreiben, seien eben auch ganz unterschiedlichen Strömungen entsprungen. Ein Staat würde aber wohl nur den engsten Kreis um den obersten Führer Edmond Brahimaj und die Mönche in Tirana umfassen.

Ein konkreter Plan liegt nicht vor

Hinzu kommt, dass bisher kein konkreter Plan von Ministerpräsident Edi Rama vorliegt, sein Vorschlag überraschte sogar die Bektaschi. Albanien-Experte Clewing hält diese Vorgehensweise für sinnbildlich für die Politik Ramas. Dieser sei sehr machtbewusst und auch erfolgreich mit dem, was er tue. Allerdings ist er wohl auch ein Freund grosser Gesten – ohne, dass ein echtes Fundament besteht.

Grund für den Vorschlag könnte auch eine Art Wiedergutmachungspolitik sein: 1967 erklärte der sozialistische Diktator Enver Hoxha Albanien zum "ersten atheistischen Staat der Welt", jede Religion wurde verboten. Auch die Bektaschi waren davon betroffen, obwohl Hoxha diesen nahestand. Viele ihrer heiligen Stätten wurden im Sozialismus zerstört, Mitglieder zu Gefängnisstrafen verurteilt. So gesehen scheint Rama ein Zeichen setzen zu wollen.

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Kritik von Glaubensvertretern

Kritik gibt es trotzdem – gerade von den Vertretern der Religionsgemeinschaften. Die sunnitische Glaubensgemeinschaft in Albanien hat sich gegen die Initiative ausgesprochen. Das liegt auch an der speziellen Verfasstheit des Landes. Albanien ist überwiegend muslimisch – trotzdem ist der Staat nicht islamisch geprägt. Die Mehrheit der Albaner hat keine offizielle Religionszugehörigkeit angegeben. Die wenigsten Albaner praktizieren offen ihren Glauben und interreligiöse Ehen sind nicht ungewöhnlich.

Diese spezielle liberale Haltung in Religionsfragen liegt daran, dass die Nationsbildung anders abgelaufen ist als in vielen anderen Ländern, so Albanien-Experte Clewing: "Diese säkulare Prägung ist wirklich ein Erfolg und den sehen manche gefährdet durch die Initiative von Rama."

Sollten die Bektaschi besonders herausgehoben und durch einen Mini-Staat im Staate privilegiert werden, wäre diese religiöse Besonderheit Albaniens in Gefahr und Rama würde exakt das gefährden, wofür sein Projekt stehen sollte, die Bektaschi stehen und Albanien als Ganzes: die Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Religionen.

Über den Experten:

  • Konrad Clewing ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung.

Verwendete Quellen:

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