Wenn ihr Kind spurlos verschwindet, beginnt für die Eltern ein Albtraum. Im Interview spricht die Redaktionsleiterin von "Aktenzeichen XY ... ungelöst" über den Umgang mit verzweifelten Angehörigen, die Belastung für alle Beteiligten und den Besuch der Eltern von Maddie McCann.
Maddie McCann, Rebecca Reusch oder Peggy Knobloch sind nur drei besonders bekannt gewordene Kinder, die eines Tages plötzlich verschwanden und teilweise jahrelang die Boulevardschlagzeilen beherrschten.
Doch jährlich werden mehr als 60.000 Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. In 99 Prozent der Fälle tauchen die Vermissten wohlbehalten wieder auf. Von einigen wenigen Kindern fehlt allerdings bis heute jede Spur.
Sie vielleicht doch noch wiederzufinden, das ist die Hoffnung der Angehörigen, die sich an die ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY ... ungelöst" wenden. Die seit Jahrzehnten bekannte TV-Show widmet sich in diesem Jahr zum zehnten Mal (Sendetermin: 19. Juli) in einem Spezial "Wo ist mein Kind?" den furchtbaren Fällen, wenn Eltern ihr spurlos verschwundenes Kind suchen.
Auch anlässlich des "Tages der vermissten Kinder" am 25. Mai sprachen wir mit Ina-Marie Reize-Wildemann, der Redaktionsleiterin der Sendung, über den schwierigen Umgang mit diesen Schicksalen.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welche Fälle in der Sendung gezeigt werden?
Ina-Marie Reize-Wildemann: Ein Kriterium ist, dass wir die Angehörigen zu Wort kommen lassen möchten. Nicht in allen Fällen sind diese auch dazu bereit. Wir versuchen, uns mit den Fällen zu beschäftigen, bei denen sowohl die Angehörigen als auch die Polizei diese Aufarbeitung bei uns für sinnvoll erachten im Sinne der Aufklärungsmöglichkeiten.
Welche Rolle spielt bei Ihrer Sendung der Voyeurismus?
Gar keine. Wir arbeiten ja mit den Betroffenen zusammen und sind sehr direkt mit den Geschichten konfrontiert. Wenn Sie das einige Male erlebt haben, verbietet sich ein voyeuristischer Ansatz automatisch. Das wäre so viel Zynismus, so könnte ich meinen Job nicht machen.
Bei uns geht es immer um sehr verzweifelte Angehörige, die sehr dankbar sind, dass wir die Fälle, oft nach Jahren, noch mal aufgreifen, während die Polizei ihre Aktivitäten mehr oder weniger abgeschlossen hat und in allerletzter Instanz auf Hinweise durch eine grosse Öffentlichkeit hofft. Also nur, wenn Staatsanwaltschaft und Polizei einverstanden sind, berichten wir über die Fälle.
Ist das Thema vermisste Kinder für die zuständigen Redakteure belastender als "normale" Kriminalfälle?
Ja, ganz deutlich. Schon in der Vorbereitung ist es sehr belastend. Wer selber Kinder hat und dann Fälle behandelt, bei denen es um Vermisste im gleichen Alter geht, dem fällt es schon sehr schwer, die Parallele im Kopf nicht zu ziehen.
In der Sendung treten auch Betroffene auf. Gibt es für diese Gäste eine psychologische Betreuung?
Teilweise. Die Anwesenheit der Betroffenen macht diese Spezialsendung viel anstrengender für uns als die normale "XY"-Ausgabe. Wir versuchen, mit grossem Fingerspitzengefühl mit dieser Situation umzugehen.
In Einzelfällen bekommen wir von Seiten der Polizei psychologische Unterstützung. Manchmal ist das bei starker psychischer Belastung sehr hilfreich.
Wie bereiten Sie Ihre Gäste auf die emotionale Ausnahmesituation in der Sendung vor?
Die Filme schauen wir nachmittags im Vorfeld der Sendung gemeinsam an, damit die Angehörigen genau wissen, was sie in der Sendung erwartet. Das findet in einem geschlossenen, intimen Rahmen statt.
Alle Angehörigen mit den betreuenden Leuten sind beieinander und haben danach viel Zeit, den Film, der zeigt, wie, wo und wann ihr Kind verschwunden ist, auszuhalten. Dabei hat sich ein erfreulicher Effekt ergeben, den wir vorher nicht so erwartet hatten.
Welcher denn?
Die Eltern der vermissten Kinder bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft. Sie lernen sich bei uns am Sendetag kennen und verbringen viele Stunden zusammen. Da entsteht in vielen Fällen eine unglaubliche Solidarität.
Telefonnummern werden ausgetauscht und sich versprochen, in Kontakt zu bleiben. Das ist sehr schön und es tut den Angehörigen sehr gut, dass sie mit jemandem sprechen können, der sie versteht, der dasselbe erlebt hat.
Häufig liegen die Fälle mehrere Jahre zurück. Werden da nicht alte Wunden aufgerissen?
Nein. Zunächst mal haben wir nur Leute in der Sendung, die bereit waren, mitzumachen. Und die meisten sind sehr dankbar, dass sie bei uns über den Fall reden können und Gehör finden.
Am Anfang erfahren die Angehörigen ja grosses Mitleid und Mitgefühl in ihrem Umfeld. Aber für die anderen geht irgendwann das Leben weiter, während für die Betroffenen das Thema weiter im Mittelpunkt steht.
Sie haben mit vielen Eltern von vermissten Kindern gesprochen. Was beschreiben diese als das Schlimmste?
Ganz eindeutig die Ungewissheit. Alle sagen: "Wenn ich mein Kind oder meinen Angehörigen begraben könnte, dann kann ich wenigstens abschliessen. Aber nicht zu wissen, was geschehen ist, das macht mich verrückt, das macht mich fertig."
Die Leute malen sich die schrecklichsten Szenarien aus, der Tod ist leichter zu ertragen als die Ungewissheit.
Wie oft zerbrechen Familien an der Belastung?
Das lässt sich so nicht sagen. Was ich aus meiner Erfahrung bestätigen kann, ist, dass für niemanden das Leben normal weitergeht und meistens die Mütter extrem psychisch betroffen sind.
Ich habe immer wieder beobachtet, dass die Mütter, wenn das Kind schon sehr lange vermisst wird, grosse gesundheitliche Probleme, etwa massive körperliche Einschränkungen bekommen.
Beim vielleicht bekanntesten Fall eines vermissten Kindes, bei Maddie McCann, wurde zwischenzeitlich auch gegen die Eltern ermittelt. Ist das aus Ihrer Sicht nachvollziehbar?
Wir hatten den Fall 2013 auch in unserer Sendung. Ich durfte die Eltern kennenlernen und auch die englischen Ermittler. Die habe ich direkt auf den Verdacht gegen die Eltern angesprochen.
Sie sagten mir, sie hätten die Familie durchleuchtet, es gebe kein Fitzelchen, keinen Aspekt des Familienlebens, der Psyche, des Umfelds, der ihnen verborgen geblieben wäre. Sie hätten nicht den Funken eines Hinweises, dass an ihrer Geschichte irgendetwas nicht stimmen könnte.
Wie haben die Eltern auf den Verdacht reagiert?
Wir hatten das Ehepaar zu Gast in der Sendung. Die beiden waren sehr beeindruckend, aber vor allem die Mutter wirkte auch sehr stark belastet, da verbieten sich dann tatsächlich manche Fragen.
Im Vorgespräch im Büro haben sie einen wunderbaren, sympathischen, netten, feinfühligen, weichherzigen, aber gleichzeitig auch verwundeten, zutiefst verletzten Eindruck gemacht. Wenn sie da vor einem sitzen, kommt man im Rahmen unserer Arbeit nicht auf die Idee, ihnen so etwas an den Kopf zu werfen. Ich habe keine Zweifel an ihrer Unschuld, auch wenn ich gelernt habe, dass man nie ganz sicher sein kann.
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