Einen Monat nach dem Anschlag von Solingen - vermutlich begangen von einem islamistischen Terroristen - findet die Stadt nur langsam zum Alltag zurück. Die Einwohner möchten nicht, dass die Opfer vergessen werden.
Einige Blumensträusse sind verwelkt, andere gerade erst abgelegt und noch ganz frisch. Auch ein Meer von Grablichtern hat sich angesammelt auf dem Fronhof in Solingen. Hier hatte vor einem Monat ein mutmasslich islamistischer Terrorist mit einem Messer drei Menschen getötet und acht verletzt. Auf Schildern und Schleifen steht "Frieden" und "Wir halten zusammen" oder auch "Wir Syrer sagen: Frieden und Menschlichkeit für Solingen". Immer wieder kommen Menschen, verharren einen Moment, einige falten die Hände, schütteln den Kopf, gedenken still.
"Meine Tochter war live dabei, sie hat alles vom Fenster aus gesehen, auch den Täter. Sie beansprucht nun psychologische Hilfe", sagt eine 63 Jahre alte Solingerin. Viele trauten sich noch immer nicht in die Innenstadt, schildert ihre Bekannte. Zwei Erzieherinnen, die in der Nähe arbeiten, berichten: "Schon um 7:00 Uhr stehen hier die Menschen und trauern." Der Schock sei längst nicht verarbeitet.
Politische Folgen
Vier Wochen nach dem Terroranschlag sind Sicherheitspakete geschnürt, Grenzkontrollen angelaufen und erstmals seit Jahren Abschiebungen nach Afghanistan erfolgt. Dass es einem radikalen Islamisten irgendwann wieder gelingen würde, einen Anschlag zu begehen, hatten Sicherheitsexperten erwartet. Und dann geschah es eine Woche vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen - ausgerechnet in der bergischen Stadt.
Solingen bemüht sich nach den rechtsextremistischen Morden 1993 seit Jahrzehnten vorbildlich um Integration. Nicht zufällig trug das Fest zur 650-Jahr-Feier der Stadt den Namen "Festival der Vielfalt". "Warum immer Solingen?", fragte Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) nach der Tat. "Es ist nicht gerecht, was uns in Solingen widerfährt."
Mitbewohner des mutmasslichen Täters berichten
Viele Fragen rund um die Tat, das Motiv und den mutmasslichen Täter sind auch vier Wochen danach noch offen. Der Syrer Issa Al H. (26) sitzt weiter in Untersuchungshaft. In dem ARD/ZDF-Magazin "Strg F" beschreiben ihn seine Mitbewohner aus dem Wohnheim als verschlossen und ständig auf sein Smartphone starrend. Auf sie habe er depressiv gewirkt, psychisch krank, aber nicht wie ein fanatischer Islamist: Er habe geraucht und im Ramadan nicht gefastet.
Ein einstiger Zimmergenosse sagte dem Magazin, dass er selbst vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und vor dem Krieg aus Syrien geflohen sei. Und nun müsse er damit klarkommen, dass er in Solingen wohl ein Zimmer mit einem IS-Mann geteilt habe. Ein anderer Bewohner berichtet, Issa Al. H. habe ihm erzählt, dass er in Syrien nach Anschlägen des IS mit einer Decke Leichenteile eingesammelt habe.
Bei den Ermittlungen steht auch das Messer im Fokus
Zum Stand der Ermittlungen hüllt sich die Bundesanwaltschaft seit Wochen in Schweigen. Aus Sicherheitskreisen heisst es, dass das als Tatwaffe sichergestellte Messer dem Syrer inzwischen zweifelsfrei zugeordnet werden könne. An dem Messer seien nicht nur Blutspuren der Opfer, sondern auch DNA des 26-Jährigen gesichert worden. Zudem fand sich die passende Verpackung eines Messersets in seinem Zimmer.
Ein wohl absichtlich beschädigtes Handy, das auf einer Wiese gefunden wurde, habe inzwischen trotz des Schadens ausgelesen werden können. Nach einem zweiten Handy wird noch öffentlich gefahndet. Auch das Bekennervideo, das der Islamische Staat über seinen Propagandakanal verbreitet hatte, stamme vom 26-Jährigen, seien sich die Ermittler sicher. Es war unweit der Solinger Flüchtlingsunterkunft aufgenommen worden, in der Issa Al H. gewohnt hatte.
Die Ermittler interessieren sich besonders für das sogenannte Nachtat-Verhalten: Wo war der 26-Jährige in den Stunden bis zur Festnahme? Verbunden damit ist die Frage: Gab es Mitwisser oder gar Helfer?
Konsequenzen für Solingens Titel "Klingenstadt"?
Ein Messerattentat ausgerechnet in der "Klingenstadt" Solingen - und doch werde man an diesem Titel festhalten, heisst es aus dem Rathaus. Solingen stehe nun einmal in aller Welt für eine jahrhundertealte Tradition und Erfahrung bei der Herstellung von Klingen. Die Industriestadt sei damit die weltweit einzige Stadt, deren Name zugleich ein geschützter Markenbegriff ist. Diskutiert werde allerdings der Name des Ehrenpreises der Stadt: "Die Schärfste Klinge". Die Debatte darüber beginne gerade erst - auch über den Umgang mit Symbolen, Wegweisern und Logos.
Für viele Menschen in der Stadt geht es aber vor allem ums Begreifen und Verarbeiten. "Die Trauer ist sehr gross und natürlich sind Ängste noch da nach so einer schlimmen Tat", berichtet die 63-jährige Solingerin. Neben ihr legt eine Dame Blumen nieder. Sie habe eine der getöteten Personen gekannt, erzählt sie - und fragt: "Was ist das bloss für eine Welt?" (dpa/bearbeitet von phs)
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