Pierre Maudet, der neue Präsident der Kantonsregierung, überwacht die Entwicklung des Grossraums Genf und des internationalen Genf. Dieser alte Fuchs der Lokalpolitik skizziert, wie das Wachstum des französisch-schweizerischen Ballungsraums organisiert und wie dessen internationale Rolle gestärkt werden kann.
Bei den Kantonswahlen im April dieses Jahres wurde die politische Landschaft in Genf heftig durchgerüttelt. Die rechtskonservativen Parteien und die Unabhängigkeitsbewegungen büssten zugunsten der anderen Parteien Wählerstimmen ein.
Die Ablehnung von Grenzgängern, die sich insbesondere die Genfer Bürgerbewegung (Mouvement citoyen genevois, MCG) auf die Fahne geschrieben hat, scheint kein sicheres Erfolgsrezept mehr zu sein. Das ermöglicht es der neuen Regierung des Kantons, ihr Agglomerationsprojekt voranzutreiben.
Pierre Maudet, der unterlegene Kandidat für die Ersatzwahl im 7-köpfigen Bundesrat (Schweizer Regierung) im letzten Jahr, wurde in Genf durch die Wiederwahl in die Kantonsregierung entschädigt. Maudet, der von seinen Kollegen für vier Jahre zum Präsidenten der Exekutive gewählt wurde, gibt sich entschlossen und ist zuversichtlich für die Zukunft einer Region, die eine starke wirtschaftliche Aktivität mit den Möglichkeiten der zahlreichen internationalen Organisationen am Genfersee verbindet.
swissinfo.ch: Die letzten Kantonswahlen haben einen Teil der Hypotheken für eine grenzüberschreitende Entwicklung des Grossraums Genf aufgehoben. Ist jetzt die Zeit für Erfolge gekommen?
Pierre Maudet: Das Wesentliche bleibt noch zu tun. Aber der Zeitplan ist jetzt viel klarer. Die Einweihung der CEVA, jetzt Léman Express genannt, ist für Ende 2019 geplant. Diese neue Bahnlinie ist Teil einer weiteren Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Genf und seiner Region und die im Wesentlichen durch wirtschaftliche Bedürfnisse hervorgerufenen Pendlerströme zu betrachten.
Wir stellen auch fest, dass die Zahl der gewählten Abgeordneten des MCG [Anti-Grenzgänger-Partei], im Grossen Rat halbiert wurde.
Dieser Kontext zeigt, dass sich die Genferinnen und Genfer bewusst sind, dass das Greater Geneva, dieser Lebensraum am See, eine Realität ist, unabhängig von den Wahrnehmungen, die es auf beiden Seiten der Grenze hervorruft.
swissinfo.ch: Warum haben die Behörden die organische Entwicklung dieser Metropolregion so wenig vorausgesehen?
P.M.: Die Fähigkeit, eine bestimmte wirtschaftliche Entwicklung zu wählen und nicht einfach zu erleiden, ist ein Thema für jede Stadt. Sie wird auf eine harte Probe gestellt, wenn es keine Übereinstimmung zwischen der politischen Grenze, dem Wirtschaftsraum und den betroffenen Beitragszahlern gibt.
Wenn es keine Verbindung zwischen den Begünstigten, den Zahlenden und Nutzniessern gibt, entsteht eine ganze Reihe von Spannungen.
Das Beispiel Genf ist offensichtlich. Die Tatsache, dass man Menschen, welche die wirtschaftliche Entwicklung am Leben erhalten aber nicht hier wohnen können, auf die andere Seite der Grenze schicken muss, vergrössert diese Kluft.
Die Behörden haben diese Situation zweifellos nicht früh genug berücksichtigt. Aber ich bin nicht daran interessiert, die Vergangenheit zu kommentieren.
swissinfo.ch: Wie läuft der Austausch zwischen den Politikern auf beiden Seiten der Grenze ab?
P.M.: Wir fangen nicht bei Null an. Begegnungsstrukturen sind vorhanden. Die Kontakte sind gut und werden in dieser Legislaturperiode konkretisiert werden. Die Erweiterung des Trams 12 – einer Institution in Genf – innerhalb der französischen Gemeinde Annemasse ist eine Realität, die wir in den kommenden Jahren erleben werden. Sie ist das Ergebnis persönlicher Kontakte, der Fähigkeit, gemeinsam für Subventionen des Bundes zu kämpfen. Diese Linie verkörpert die gemeinsame Vision einer Agglomeration, die über die Grenze hinausreicht.
swissinfo.ch: Der Bürgermeister der französischen Gemeinde Saint-Julien, Antoine Vieillard, spielt den Miesepeter, indem er die Genfer Behörden regelmässig kritisiert. Er prangert übermässiges Wachstum an. Entspricht seine Kritik dem Standpunkt der französischen Gemeinden rund um Genf?
P.M.: Die von den französischen Politikern angesprochenen Probleme sind im Allgemeinen real. Sie bringen ein gegenseitiges Anliegen zum Ausdruck. Die Entwicklung einer Region führt zur Aufnahme vieler weiterer Familien und zu einem wachsenden Ausbildungsbedarf. Dies erfordert Planung auf beiden Seiten der Grenze. Es ist notwendig, eine gemeinsame Vision zu entwickeln. Wenn möglich, sollten dramatisierende Gesten vermieden werden. Ich will mich nicht von den Überlegungen eines lokal gewählten Politikers aufhalten lassen.
swissinfo.ch: Die EU verlangt, dass arbeitslose Grenzgänger von dem Land entschädigt werden, in dem sie arbeiteten. Ist das eine grosse Falle für die Region Genf?
P.M.: Es ist klar, dass die Aussicht, die Arbeitslosen von deren Arbeitsort aus entschädigen zu müssen, ein kompletter Paradigmenwechsel wäre. Aber wir sind sehr weit davon entfernt, diese Massnahme umzusetzen, weil es sich um eine Debatte zwischen 27 Mitgliedstaaten handelt, die viele interne Diskussionen auslösen kann. Schliesslich haben alle Länder Grenzen mit jemandem. Für Frankreich ist es nicht so selbstverständlich, eine Position einzunehmen, die dieser Änderung förderlich wäre, da Frankreich andere Länder an seinen Grenzen hat, in denen die Bedingungen in Bezug auf die Arbeitslosenversicherung viel schlechter sind als in der Schweiz. Diese Debatte muss daher weiterverfolgt und in die Verhandlungen über die Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU einbezogen werden.
swissinfo.ch: Was das internationale Genf betrifft, so haben Sie den Kollegen der Zeitung Le Temps angekündigt, dass Sie die wissenschaftliche Diplomatie entwickeln wollen. Ist dies eine Antwort auf die Bedrohungen des multilateralen Systems, insbesondere der UNO?
P.M.: Auch wenn es regelmässige Angriffe gibt, sind die Schweiz und Genf als Gastgeberstadt überzeugt, dass der Multilateralismus noch eine grosse Zukunft vor sich hat. Dies vielleicht umso mehr, als dass sich einige Länder, allen voran die USA, aus einigen seiner Organe zurückziehen.
Genf verfolgt eine Diversifizierungs-Strategie im Rahmen internationaler Aktivitäten, die es fördert. In einer Welt, die sehr relativistisch geworden ist, mit Ideologien, die wieder an Boden gewinnen, scheint uns die Wissenschaft ein Bindeglied zwischen den Völkern zu sein. Es geht darum, Themen zu finden, die bereits vorhandene Kompetenzen wie das CERN, den Biotech-Sektor, den akademischen Sektor (Universitäten, Hochschulen, EPFL), UN-Organisationen und wichtige Wirtschaftsakteure zusammenführen. Es gibt hier einen äusserst fruchtbaren Boden, um den zentralen Ort Genf zu entwickeln und zu fördern, um die Herausforderungen zu bewältigen, die auf unserem Planeten lasten. (Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler) © swissinfo.ch
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