Weltweit sind laut aktuellem UN-Bericht 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Chris Melzer, der Pressesprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, erklärt die Fluchtursachen, fordert, ein realistischeres Bild der Flüchtlingssituation zu zeichnen und appelliert an Europa, seine politische und wirtschaftliche Verantwortung wahrzunehmen.

Ein Interview

Mehr Panoramathemen finden Sie hier

Mehr Panorama-News

Über 70 Millionen Menschen sahen sich im letzten Jahr gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und an einem anderen Ort schützende Zuflucht zu suchen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. In den meisten Ländern, aus denen Geflüchtete stammen, herrscht Krieg oder von bewaffneten Gruppen ausgehende Gewalt.

Aus dem Südsudan, Syrien und Afghanistan stammt mit über 50 Prozent der Grossteil - in allen drei Ländern herrschen seit Jahren Krisensituationen, die zu brutalen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung führen.

Kriege und gewaltsame Konflikte begünstigen die Verletzung der Menschenrechte. Doch auch im Alltag Die Menschen erleben massive Diskriminierung und Verletzung ihrer Rechte. Dazu zählen ethnische, religiöse oder geschlechtsspezifische Gründe.

Wir haben mit Chris Melzer, dem Pressesprecher des UNHCR Deutschland, über die aktuelle Flüchtlingssituation und Fluchtursachen gesprochen.

Über 70 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Wie haben sich Fluchtursachen in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Beziehungsweise haben sie das überhaupt?

Chris Melzer: Die Fluchtursachen haben sich im Grunde nicht besonders geändert. Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen waren und sind die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen.

Neu sind höchstens einige Orte. Syrien war noch vor zehn Jahren verhältnismässig stabil und den Südsudan gab es noch gar nicht.

In der Liste der Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen, sind die beiden jetzt die Nummer eins und die Nummer drei. Die Nummer zwei hingegen, Afghanistan, ist schon seit vielen Jahrzehnten in stabil.

Wie schätzen Sie die Entwicklung dieser Länder in den nächsten Jahren ein?

Es ist extrem schwierig, Flüchtlingsbewegungen lang- oder auch nur mittelfristig vorherzusagen.

Die drei von Ihnen genannten Länder brauchen dringend Frieden. Wir sprechen hier von vielen Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Und sie wollen zurückkehren.

Wir sprechen jeden Tag mit Flüchtlingen und der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, ist bei den allermeisten ungebrochen. Manchmal selbst nach Jahrzehnten.

Welche konkrete Verantwortung müssen Deutschland und Europa übernehmen, um Fluchtursachen dauerhaft zu bekämpfen?

Europas Verantwortung liegt aus unserer Sicht in erster Linie darin, verfolgten Menschen in Not zu helfen. Das macht Deutschland zum Beispiel schon sehr vorbildlich.

Wir wünschen uns natürlich auch, dass Europa seine politische und seine wirtschaftliche Kraft nutzt, um Stabilität und Frieden zu fördern. Und das geht Europa überall da etwas an, wo es auch Geschäfte macht – also weltweit.

41,3 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene, 85 Prozent fliehen in (benachbarte) Entwicklungsländer. Welche Verantwortung sehen Sie hier für die europäischen Länder?

In der Tat bleiben die meisten Menschen im direkten Nachbarland und hoffen darauf, schnell in die Heimat zurückkehren zu können. Das zeigt, dass Europa nicht etwa überlastet ist, wie man fast jeden Tag liest und hört.

Es gibt tatsächlich eine Flüchtlingskrise. Aber nicht in Deutschland und erst recht nicht in Italien oder Frankreich. Wenn es überhaupt eine Flüchtlingskrise gibt, dann im Libanon, wo jeder sechste Einwohner ein Flüchtling ist.

Oder in Bangladesch, wo fast genauso viele Flüchtlinge aufgenommen wurden wie in Deutschland – obwohl Bangladesch eines der ärmsten Länder der Erde ist und Deutschland eines der reichsten.

Wie beurteilen Sie die Neuregelungen zu Abschiebungen?

Grundsätzlich ist gegen Abschiebungen nichts einzuwenden, wenn sie das Resultat eines rechtsstaatlichen Prozesses sind – und da haben wir bei der Bundesrepublik Deutschland natürlich keinen Zweifel.

Wenn man in einem langwierigen Prozess zwischen Flüchtlingen und Migranten unterscheidet, aber sie letztlich dann doch gleich behandelt, könnte man sich diesen ganzen Prozess sparen.

Was müsste sich Ihrer Meinung in der öffentlichen Debatte und Berichterstattung ändern, um den negativen Beiklang von der Flüchtlingsthematik zu lösen?

Es ist seltsam, dass Flüchtlinge anfangs völlig unrealistisch als ausschliesslich gut dargestellt wurden. Und nach der Kölner Silvesternacht, als müsse man es nachholen, fast nur noch schlecht. Flüchtlinge sind Menschen!

Und wenn eine Million Syrer fliehen, passiert dasselbe, als wenn eine Million Deutsche fliehen. 99 Prozent sind rechtschaffene Bürger, die Sicherheit suchen und ihre Familie schützen und ernähren wollen.

Aber natürlich sind auch ein paar dabei, für die man sich schämt. Wir alle sollten ein realistisches Bild davon zeichnen. Dann wird auch jeder schnell merken, dass keine Seite vor der anderen Angst zu haben braucht.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.