Die Sekte "Zwölf Stämme" lebt abgeschottet in Bayern, die Kinder sollen mit Gewalt zu Gehorsam erzogen worden sein. Ein Mitglied steht deswegen jetzt vor Gericht. Der Prozess gibt Einblick in eine fremde Welt. Welche Sekten gibt es in Deutschland? Wann gilt die Glaubensfreiheit und wann muss der Staat einschreiten? Ein Überblick.
Sie warten auf den Weltuntergang oder versprechen Wunderheilungen, manche richten sich gegen die Demokratie oder greifen sogar zu Gewalt: Sekten sind in ihren Weltanschauungen und ihrem Gefahrenpotenzial extrem unterschiedlich.
Auch der Begriff "Sekte" ist umstritten. Eine Kommission des Bundestags zu dem Thema lehnte ihn 1998 als unpräzise und irreführend ab. Stattdessen führte sie die offizielle Bezeichnung "Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen" ein. In der Umgangssprache blieb das Wort Sekte aber erhalten.
Die Kommission reagierte damals auf zahlreiche Vorfälle, die es in den Jahren zuvor im Zusammenhang mit Sekten gegeben hatte, wie den Giftgas-Anschlag der Aum-Sekte 1995 auf die U-Bahn in Tokio oder mehrere Massenselbstmorde, darunter der Sekte "Heaven's Gate" 1997 in Kalifornien.
Der Glaube an die einzige Wahrheit
Doch woran erkennt man eine Sekte? Eine Abgrenzung zur Religion ist schwierig, die Übergänge sind fliessend. Sabine Riede ist Geschäftsführerin des staatlich geförderten Vereins "Sekteninfo NRW", der zu diesem Thema Beratung anbietet.
Für sie gibt es drei Merkmale, die diese Gruppen verbinden: "Erstens fühlen sie sich im Besitz der einzigen Wahrheit und kennen keinen Toleranzgedanken."
Auch das Denken in Schwarz und Weiss, Gut und Böse, ganz ohne Zwischentöne sei typisch. Mitglieder, die sich falsch verhielten, erhielten eine Strafe.
Als Drittes nennt Riede Allmachtsfantasien, zum Beispiel den Glauben an den Weltuntergang bei den Zeugen Jehovas oder auch bei den "Zwölf Stämmen". Nur ihre Anhänger werden im Paradies belohnt, alle anderen Menschen nicht.
"Wer so etwas feststellt, sollte der Gruppe den Rücken kehren", warnt Riede.
Artikel vier des Grundgesetzes garantiert in Deutschland die Freiheit des Glaubens. Die Grenze ist jedoch überschritten, wenn Menschen Schaden zugefügt wird.
So entschied der Staat, dass die Erziehungsmethoden der "Zwölf Stämme" kindeswohlgefährdend seien und nahm die Kinder im September 2013 in Obhut.
Im September 2015 kündigte die Sekte an, nach Tschechien umziehen zu wollen, wo sie offenbar mehrere Grundstücke besitzt.
"Zwölf Stämme": Prügelstrafe für Lachen
Die Kinder wüchsen dort völlig abgeschottet von der Aussenwelt auf, berichtet Riede. Sie dürften nicht spielen, erlebten keine Freiheit und Selbstständigkeit.
In Gesprächen hätten Aussteiger von täglichen Misshandlungen erzählt. "Sie wurden für alles Mögliche verprügelt, zum Beispiel wenn sie lachen", so Riede.
Das widerspricht nicht nur dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung, sondern auch der Menschenwürde. Auch im Prozess gegen ein 54-jähriges Sektenmitglied berichtete ein Zeuge an diesem Montag von Prügelstrafen mit einer 1,20 Meter langen Rute.
Auch andere Gruppen sind im Visier des Staates. Die Salafisten werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Gruppe gehört auch zu den gefährlichsten, meint Riede, weil sie explizit Gewalt befürworte. Jeder mit anderer Meinung sei für sie ein potenzieller Feind.
Scientology steht ebenso unter Beobachtung, weil ihre Grundsätze die bestehende Demokratie ablehnen. "Der Gründer Ron Hubbard hielt Demokratie nur für möglich, wenn alle Menschen Scientologen sind", erklärt Riede.
Andere Gruppen greifen statt zu körperlicher vor allem zu psychischer Gewalt, etwa wenn sie ihre Mitglieder extrem unter Druck setzen. Riede nennt die Zeugen Jehovas hierfür als Beispiel.
Wunderheiler versprechen Genesung
Etwa zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland gehören fest einer von etwa 400 solcher Gruppen an, schätzt Riede. Darunter seien auch viele sehr kleine Gruppen mit nur zehn bis 15 Mitgliedern. Besonders in der gerade boomenden esoterischen Szene seien sie verbreitet.
Dort verspreche zum Beispiel ein selbsternannter Wunderheiler seinen Anhängern körperliche oder auch seelische Genesung. Unter Umständen könne das für die Betroffenen lebensbedrohlich sein, wenn etwa bei einer Krebserkrankung auf die medizinische Hilfe eines Arztes ganz verzichtet werde.
Zwar habe jeder Erwachsene das Recht, die Art seiner Behandlung selbst zu wählen, betont Riede, aber oft würden in diesen Heiler-Gruppen falsche Informationen verbreitet. Sie rät deswegen zur Vorsicht.
Manchmal kostet der Glaube zwar nicht das Leben, aber eine Menge Geld. Ob Wahrsagerin oder Astro-Hotline – vielen solcher Akteure gehe es allein um kommerzielle Interessen.
Nach Riedes Beobachtung nehmen solche Angebote auch deswegen zu, weil viele Menschen durch beruflichen oder anderen Stress ihre sozialen Kontakte vernachlässigten. In Krisen sind sie dann allein. "Oft suchen sie eigentlich jemanden zum Reden und landen dann bei zweifelhaften Ansprechpartnern", sagt die ausgebildete Pädagogin.
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