Vor zehn Jahren explodiert in der Kölner Innenstadt eine Nagelbombe. Verantwortlich für den Anschlag sind die beiden Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. 22 Menschen werden verletzt, vier davon schwer. Abdulla Özkan, 39, ist eines der Opfer. Im Gespräch erzählt er, welche Folgen das Attentat für ihn hatte.
Herr Özkan, welche Erinnerungen haben Sie an den 9. Juni 2004?
Abdulla Özkan: Ich war an diesem Tag mit einem Freund auf dem Weg zu einem Münchner Konzert und vorher wollten wir uns noch frisieren lassen. Es war nicht viel los, vielleicht zehn Kunden im Laden. Als wir dann fertig waren und gehen wollten – die Türe war schon offen – ist die Bombe explodiert. Zuerst dachte ich, dass es sich um eine Gasexplosion in einem der Imbisse nebenan handeln würde. Aber nach einer Minute kamen schon die ersten, um zu helfen, und die sagten, dass überall Nägel lägen und das Ganze nach einer Bombe aussieht.
Welche Verletzungen haben Sie davongetragen?
Ich stand mit dem Rücken zur Tür, aber nur etwa einen Meter von der Bombe entfernt. Die Explosion hat mich in den Laden hineingeworfen. Ich hatte offene Wunden am Hals, der Schläfe, am Ohr und am Hinterkopf sowie weitere Verletzungen am Bein, am Unterarm. Auf dem linken Ohr habe ich aufgrund des hohen Schalldrucks ein Knalltrauma erlitten.
Wie ging es danach weiter?
Wir kamen ins Krankenhaus, wurden behandelt, und anschliessend in die Keupstrasse zurück zur Polizei gebracht. Man hat uns dann von 18:00 Uhr bis 00:30 Uhr verhört. Wir mussten zur Beweissicherung alle unsere Klamotten abgeben. Das kam uns merkwürdig vor, aber wir haben uns erstmal nichts dabei gedacht. Danach kam ich für ein paar Tage ins Krankenhaus und musste für ein paar Monate in Kur gehen. Dann bin ich wieder arbeiten gegangen, um meine Familie zu ernähren. Bis 2011 gab es immer wieder Höhen und Tiefen, ich bin zwischendurch häufiger krank gewesen. Als aber herauskam, wer hinter dem Attentat steckt, sind sämtliche gesundheitliche Folgeschäden bei mir ausgebrochen: psychische Belastungsstörungen, Schlafstörungen, Schulterschmerzen und ein Tinnitus.
Wie haben Sie auf die Ermittlungspannen reagiert, die nach und nach herauskamen?
Wir Opfer haben uns gefühlt wie an der Nase herum geführt. Bis 2011 galten wir in Deutschland als Täter. Alle, die an diesem Tag im Friseursalon gewesen waren, auch alte Leute, kamen in den Augen der Behörden als Täter in Frage. Erst 2011 wurden wir wieder zu Opfern. Bis dahin war der Umgang der Behörden mit einzelnen Leuten wie in einem schlechten Film.
2013 wurde Ihre Klage auf ein höheres Entschädigungsgeld abgewiesen. Warum haben Sie mehr Geld gefordert?
Wir haben nach 2011 jeweils 13.000 Euro - eine "freiwillige Sofortleistung" - vom Staat bekommen. Aber damit sind nicht einmal alle Kosten abgedeckt worden, die wir Opfer aufgrund unserer Verletzungen hatten. Ich habe dann auf weitere 17.000 Euro geklagt. Das klingt nach viel, aber kann ich mir davon ein neues Gehör kaufen? Nein. Wir haben also geklagt, obwohl klar war, dass wir den Prozess verlieren würden. Und tatsächlich ist die Klage bei der ersten Verhandlung sofort abgewiesen worden. Aber das ist okay. Mir ging es nicht um die Kohle. Wir wollten nur vorführen, wie schnell wir abgespeist wurden.
Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie die Nachrichten über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hören?
Schlecht. Ich war kürzlich drei Monate auf Kur. Momentan bin ich wieder krankgeschrieben. Was mich aber am meisten bedrückt, ist, dass kein Politiker in zehn Jahren gefragt hat, wie das im Betrieb ist, wenn da einer immer wieder krank ist, weil er mit den Folgen dieses Anschlags nicht klar kommt. Was meinen Sie, wie lange so ein Arbeitgeber mitspielt, wenn einer so oft krankheitsbedingt ausfällt? Zum Glück habe ich einen sehr guten Arbeitgeber, der mich jedes Mal unterstützt, wenn ich wieder krankgeschrieben werden muss. Aber selbst ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht auskurieren kann, weil ich weiss, dass ich schnell wieder arbeiten muss. Das belastet mich sehr. Da hätte von der Politik mehr kommen müssen als immer wieder neue Einladungen nach Berlin.
Sind Sie heute noch in therapeutischer Behandlung?
Ich war bei mehreren guten Therapeuten, aber irgendwie kamen wir nicht weiter. Es gibt in Deutschland wenig Anschlagsopfer und nicht viele Spezialisten. Jetzt habe ich zum Glück eine gute Therapeutin gefunden. Aber da muss ich fast 100 Kilometer pro Weg zurücklegen. Auch das ist eine Belastung. Viele andere Opfer können viele Hilfsangebote gar nicht erst in Anspruch nehmen, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Und die Ombudsfrau der Bundesrepublik, Barbara John, ist bereits 75 und kann sich nicht um alle Anschlagsopfer und Geschädigten gleichzeitig kümmern. Viele Opfer kommen nicht klar. Einer der Friseure hat sich im 2012 sogar erhängt, weil er das alles nicht verkraftet hat. Wir werden vergessen.
Gehen Sie wieder in die Keupstrasse?
Ja, natürlich. Ich war heute erst wieder da, um mir die Haare schneiden zu lassen. Warum soll ich Angst haben? Dass das nochmal passiert? Wenn keiner mehr dorthin geht, wenn wir den Mund halten, ist das ein Freifahrtschein für diese Menschen. Trotzdem gucke ich mich jedes Mal um, trotzdem kommen die Erinnerungen immer wieder zurück. Das wird nie weggehen. Alleine, wenn man wieder etwas Neues in den Nachrichten hört, kommt alles von damals wieder hoch. Das kann man nicht bewältigen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich will kein Geld, ich will meine alte Gesundheit zurück. Damit ich ohne Probleme arbeiten und meine Familie ernähren kann. Aber das geht nicht. Die Wunden sind zwar geheilt. Aber die Folgeschäden werden immer schlimmer, je älter ich werde.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.