Rund 100 Tage steht Recep Tayyip Erdogan diese Woche an der Spitze des neu geschaffenen türkischen Präsidialsystems. So viel Macht hatte er noch nie. Er hat sie genutzt - für einen Totalumbau des Staates. Der entspringt auch persönlichen Beweggründen des Präsidenten.
Mitte Oktober ändert die Stadtverwaltung von Istanbul die Namen von 90 Strassen. Zum Beispiel alle, die einst Zaman hiessen, stehen auf der Liste. Zaman bedeutet auf Türkisch Zeit. Doch "Zeit" war einst auch der Name der grössten Zeitung der Gülenisten - Anhänger einer Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen, den die türkische Regierung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht.
Die Eliminierung unliebsamer Strassennamen ist im Kleinen die Fortsetzung einer grossangelegten Säuberung des Staates von angeblichen Staatsfeinden und allem, was an sie erinnert. Und das obwohl der Präsident des Landes nie mehr Macht hatte als heute.
Kein Ende des Verteidigungsreflexes
Der Putsch liegt mehr als zwei Jahre zurück, und seit seiner erneuten Vereidigung vor rund 100 Tagen ist Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Die Wahlen im Juni hatten den Umbau des Staats vom parlamentarischen in ein präsidiales System besiegelt und Erdogan auf den Höhepunkt seiner Macht befördert.
"Es gab ja Hoffnungen, dass die Verteidigungsreflexe des Staates nun nachlassen, aber stattdessen sehen wir mehr vom Alten", sagt ein westlicher Diplomat - auch wenn es im Ausland vielleicht nicht so aufgefallen sei wegen der "vielen aussenpolitischen Brennpunkte", von der Idlib-Krise bis zum Zerwürfnis mit den USA über das Schicksal von Pastor Andrew Brunson.
In der Menschenrechtslage zum Beispiel habe sich kaum etwas verändert, bestätigt Michael Serkan Daventry, der auf der Analysewebseite "James in Turkey" bloggt. "Dass Kurden und andere Minderheiten gezielt ins Visier genommen werden, das geht so ziemlich ohne Unterbrechung weiter. Ich kann keine grossen Unterschiede sehen in der Zahl der Festnahmen." Auch die Fahndungen nach Gülenisten gehen weiter - beides in Serie, wie ein Blick auf die Berichte der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu allein in dieser Woche zeigt.
Am Freitag zum Beispiel meldet sie Fahndungen mit Terrorismusbezug in zehn Provinzen nach 40 Personen und 13 Festnahmen. Am Donnerstag nahmen Sicherheitskräfte in Izmir 13 Personen fest. Am Mittwoch waren es 23 Festnahmen in Ankara, unter den Festgenommenen auch Mitarbeiter der Küstenwache. Am Dienstag landeten unter anderem in Istanbul, Bursa und Sirnak 53 Menschen wegen Terrorvorwürfen in Gefängnissen, darunter ehemalige Kadetten des Militärs und Akademiker.
Regieren auch mit Dekreten
Kontakte aus der Regierungspartei AKP klagen, das Ausland respektiere das Sicherheitsbedürfnis der Türkei nach dem "Schock" des Putsches nicht. Der bekannte Straf- und Verfassungsrechtler Ersan Sen sieht das ähnlich. Die Lage der Türkei sei eben nicht mit der von Dänemark vergleichbar. Von aussen sei es leicht, die Ausweitung von Rechten zu fordern, während die Türkei mit ernsten Sicherheitsproblemen zu kämpfen habe.
International war gelobt worden, dass Erdogan im Juli Ausnahmezustand nach zwei Jahren hatte auslaufen lassen. In dieser Zeit waren Zehntausende Menschen festgenommen und mehr als 140.000 aus dem Staatsdienst entlassen worden. Keine zehn Stunden nach dem Auslaufen traf sich jedoch das Parlament, um über ein neues Anti-Terror-Gesetz zu beraten, in dem später einige Regelungen aus dem Notstand in eine permanente Form gegossen wurden.
Andere Umbauten im Staat haben per Dekret Form angenommen - 19 Stück hat der Präsident seit seiner Vereidigung erlassen. Auf Hunderten von Seiten regeln sie, wer im Staat wo in Zukunft den Hut auf hat. Viele seien legitime Anweisungen zur Anpassung des Regierungssystems, urteilt der Analyst Michael Serkan Daventry. Andere schaufeln die Macht direkt auf den Schreibtisch des Chefs.
Mit Dekret Nummer drei beispielsweise darf Erdogan in Zukunft hochrangige Militärs selber ernennen oder feuern, ausserdem die Chefs der Zentralbank. Seit Dekret Nummer vier hat er die Macht, der Privatisierungsbehörde Befehle zu geben. Ersan Sen mahnt: "Es ist nicht möglich, dass eine Person sich um alles kümmert und alles löst. Ich denke, dass die Ministerien aktiver sein müssen." Deren Zahl allerdings wurde von 26 auf 16 heruntergeschrumpft.
Nicht einfach nur ein Präsidialsystem
Für Daventry vom Polit-Blog ist der neue türkische Staat mit keinem anderen Präsidialsystem in der Welt zu vergleichen. "Im alten System musste wenigstens jeder Minister die Entscheidungen unterschreiben. Nun gibt es nur noch eine Unterschrift - die des Präsidenten".
Machterhalt sei das Motiv hier, sagen Beobachter gerne. Aber die neue Türkei ist auch ein Abbild dessen, was den Präsidenten als Mensch bewegt. Die Stossrichtung der Dekrete zum Beispiel zeige, dass er denke: "Wenn etwas funktionieren soll, muss ich es selber machen", sagt Kristian Brakel von der Böll-Stiftung in Istanbul. Ausserdem gebe es bei ihm, als jemand, der einen Putsch überlebt habe, ein gewisses Mass an "Paranoia". Erdogan habe jetzt zwar noch mehr Macht - aber er habe eben auch mehr damit zu tun, sie zu sichern.
Erdogan habe in den vergangenen Jahren oft die Verbündeten gewechselt und sich damit Feinde gemacht. Auch Menschen aus der eigenen Partei seien auf der Strecke geblieben. "Das sind Leute, die zum Beispiel bei der Kurdenpolitik andere Ziele verfolgen und die nun ihre Meinung nicht mehr äussern können, ohne abgesägt zu werden." Ausserdem sei nicht jeder glücklich über den Schulterschluss mit den Nationalisten von der MHP-Partei bei den letzten und kommenden Wahlen.
Im März stehen Kommunalwahlen an, und der Präsident rüstet sich schon. Es wirkt so, als beginne er damit, vor allem im kurdisch dominierten Südosten, Konkurrenten um die lokale Macht aus dem Weg zu schaffen. Am Montag meldet das Innenministerium die Entlassung von 259 Gemeindevorstehern wegen Verbindungen zu Terrororganisationen. In der Woche davor waren rund 150 Menschen festgenommen worden - die meisten Politiker der Oppositionspartei HDP. © dpa
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