Brachte die Regierung in den 1990er-Jahren zu Wahlkampfzwecken tausende Menschenleben in Gefahr? Die Plutonium-Affäre erschütterte vor 25 Jahren die frisch vereinigte Bundesrepublik. Vollständig aufgeklärt ist der Fall auch heute noch nicht – er hätte manche politische Karriere beendet.

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Als Lufthansa-Flug 3369 am 10. August 1994 Kurs auf den Münchner Flughafen nimmt, steht am Boden ein Korps von Sicherheitsbeamten bereit. Die Boeing 737 hat brisante Fracht an Bord, rund 500 Gramm Plutonium 239 lagern im Frachtraum.

Zwar reicht die Menge bei weitem nicht für die Zündung einer Atombombe aus, doch bei einem Absturz oder unsachgemässer Behandlung wären Menschen an Bord der Maschine und am Boden in Gefahr. 500 Gramm, so rechnet die "Bild am Sonntag" damals aus, könnten zudem das gesamte deutsche Trinkwassernetz vergiften.

Plutonium sorgt für Staatsaffäre

Das radioaktive Material an Bord von Flug LH3369 sorgt für eine Staatsaffäre, die die frisch vereinigte Bundesrepublik in ihren Grundfesten erschüttert, 25 Jahre später aber nahezu vergessen ist – auch, weil den politischen Verantwortlichen kein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Für den Bundesnachrichtendienst ist der Vorfall jedoch der grösste Skandal seit der Gründung vor 63 Jahren.

An Bord der Lufthansa-Maschine befinden sich Justiniano Torres Benítez, Julio Oroz Eguia und Javier Bengoechea Arratibel. Die drei Männer – zwei Spanier und ein Kolumbianer – verdienen ihr Geld als Kleinkriminelle im Untergrund der spanischen Hauptstadt Madrid. Dort wurden sie angeheuert, das spaltbare Material aus Moskau nach Deutschland zu schmuggeln.

Als Eguia und Benitez in Gepäckhalle C ihren schwarzen Hartschalenkoffer mit eingebautem Geigerzähler vom Gepäckband wuchten, schlagen die Ermittler zu. Das LKA hat eigens für die Aktion Strahlenmessstationen aufgebaut, Mitarbeiter und Flughafenpersonal werden später auf radioaktive Kontamination untersucht. Denn mit einem Fund dieser Qualität hatte man in Deutschland bislang keine Erfahrung: 500 Gramm Plutonium sind zu jener Zeit die grösste Menge radioaktiven Materials, die jemals aus dem Verkehr gezogen wurde.

1994 ist Wahlkampf in Deutschland

Im August 1994 befindet sich Deutschland im Wahlkampf. In Bayern stehen Landtagswahlen an, die CSU will im September die absolute Mehrheit holen und wenige Wochen später muss sich Kanzler Helmut Kohl den Wählern stellen. Ein Schlag gegen die organisierte Kriminalität kommt da gerade Recht.

Günther Beckstein (CSU), damaliger bayerischer Innenminister, tönt denn auch, die Festnahme von drei Plutonium-Händlern sei "ein Schlag gegen die internationale Atom-Mafia". Kanzler Helmut Kohl schreibt unter dem Applaus der deutschen Öffentlichkeit an Russlands Präsidenten Boris Jelzin, seinen Duzfreund, dieser solle zusehen, dass "kein spaltbares Material in der Gegend herumvagabundiert".

Selbst die "New York Times" berichtet über den Vorfall. Doch die Frage, wieso die drei Männer eine Menge, die für den Bau einer Atombombe bei weitem nicht reicht, von Russland nach Deutschland schmuggeln wollten, überlässt die Politik lieber der Justiz. Die drei Männer werden wegen Verstosses gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz angeklagt und später zu Haftstrafen verurteilt.

Bundesnachrichtendienst als Drahtzieher

Acht Monate nach der Festnahme, die Wahlen sind längst vorbei, ist es mit der Freude im Bundeskanzleramt vorbei. Der "Spiegel" veröffentlicht im April 1995 eine unglaubliche Story, die den Bundesnachrichtendienst als Drahtzieher hinter dem Plutoniumtransport sieht.

Mit dem Scheingeschäft, so enthüllen die Investigativjournalisten, sollte ein politisch nutzbarer Fahndungserfolg kurz vor den Wahlen in Bayern und im Bund inszeniert werden. Hatte sich der Auslandsgeheimdienst zum Handlanger der Politik gemacht? Die "Plutonium-Affäre" war geboren und in mehreren Artikeln veröffentlichte das Magazin detailnah, wie sich die Inszenierung zugetragen haben soll.

Die Motivation der Sicherheitsbehörden, so ein ungeheuerliches Risiko einzugehen, liess sich zu dieser Zeit auch mit Zerfall der Sowjetunion begründen. Schon lange hatte der Bundesnachrichtendienst ein buntes Treiben an den ostdeutschen Grenzen beobachtet.

Kriminelle schleusten alles, was verboten war, aus den Sowjetstaaten in die Bundesrepublik ein. Besonders Waffen- und Drogengeschäfte waren bei den Kriminellen beliebt. Als Ermittler im Mai 1994 zudem in einer badischen Garage winzige Mengen Plutonium entdeckten, erreichte der Schmuggel eine neue Qualität – und das Sicherheitsempfinden der Menschen einen Tiefpunkt.

Schliesslich lässt sich das Material für die Zündung einer Wasserstoffbombe verwenden. Auch in Amerika sorgte man sich, was bei den Alliierten in Übersee los sei. Fälle wie dieser stellten "die grösste langfristige Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten" dar, erklärte FBI-Direktor Louis Freeh damals.

Zu jener Zeit musste man in Pullach, wo der Bundesnachrichtendienst auch heute noch sitzt, auf die Idee gekommen sein, die Menschen mit einem bahnbrechenden Ermittlungserfolg beruhigen zu können. Die Festnahme in München bezeichnete Paul Münstermann, damaliger Vizepräsident des BND, als "Ergebnis systematischer Planung und nachrichtendienstlicher Methodik".

Unrecht hatte er damit nicht. Nur die Methoden seiner Behörde waren fragwürdig. Die Umstände des Plutonium-Fundes waren schliesslich ein Schwindel, provoziert von einer der wichtigsten deutschen Sicherheitsbehörden.

"Operation Hades"

In Pullach lief die Beschaffung des Plutoniums unter dem Namen "Operation Hades", benannt nach dem Gott der Unterwelt, mit der das für Geldwäsche und Drogenhandel zuständige Referat 11A beim BND betraut wurde. Dafür suchten die V-Leute Rafael Ferreras Fernandez, Deckname "Rafa" und Karsten Uwe Schnell, Deckname "Roberto", sowie Fernandez Martin, mutmasslich V-Mann der spanischen Polizei, in der Untergrundszene der spanischen Hauptstadt Madrid nach Plutonium-Dealern – und stiessen auf Benitez, Eguia und Arratibel. Die Männer nahmen das hohe Risiko auf sich und wurden im Juli 1994 in Moskau fündig.

Ermittlungsakten zeigen, dass nahezu alle Aktivitäten unter der Mitwisserschaft deutscher Sicherheitsbehörden geschahen. Noch im selben Monat transportierten die Männer eine kleinere Menge Plutonium nach München und präsentierten das Material verdeckten Ermittlern des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA).

Als sich herausstellte, dass sie die angepeilte Menge von vier Kilogramm nicht beschaffen konnten, soll Willi Liesmann vom Referat 11A die Anweisung gegeben haben, lieber weniger zu beschaffen, dafür zeitnah. "Das wäre ein guter Punkt für die Parteien bei den Wahlen", soll er gesagt haben.

Sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl und kurz vor der Bundestagswahl stellte sich der gewünschte Erfolg tatsächlich ein. Die CSU und die Koalition in Berlin profilierten sich mit dem ominösen Fund und gewannen die Wahl, Russland war als Lieferant des Materials diskreditiert und die Blockade gegen ein Verbrechensbekämpfungsgesetz, mit dem sich der BND auch um die internationale Nuklearkriminalität kümmern sollte, fiel. Jetzt sollten "bestimmte liberale Tugendwächter" mit ihren rechtsstaatlichen Bedenken lieber schweigen, gab CSU-Chef Theo Waigel zu Protokoll.

Herkunft des Plutoniums nie aufgeklärt

Doch nach den Enthüllungen im Mai 1995 entpuppte sich die Aktion als ein Desaster für Politik und Justiz. Denn nebst dem BND waren offenbar auch das Bundeskriminalamt, die Umweltministerien in Bonn und München und das Bundesfinanzministerium informiert gewesen. Kaum vorstellbar zudem, dass eine Aktion von solcher Tragweite ohne Wissen des Kanzleramtsministers, der die Geheimdienste koordiniert, oder dem Kanzler selbst möglich wurde.

Dass die "Plutonium-Affäre" 25 Jahre später nahezu in Vergessenheit geraten ist, hängt auch mit den damaligen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag zusammen. Zwar setzte die Opposition einen Untersuchungsausschuss ein, um die Vorgänge auf Ministerebene aufzuklären. Doch nachdem die Regierung die Vernehmung von Schlüsselfiguren erfolgreich verzögern konnte, beendete der U-Ausschuss seine Arbeit nach dreieinhalb Jahren ergebnislos – und mit einem Freispruch für die Regierung.

"Es habe keine rechtswidrige Einflussnahme aus dem Bereich des Kanzleramts auf Entscheidungen der an diesem Fall beteiligten Behörden gegeben", heisst es im Abschlussbericht. Woher das Plutonium genau stammte, wurde nie aufgeklärt.

Verwendete Quellen:

  • DER SPIEGEL: Die Hand im Feuer
  • DER SPIEGEL: Panik Made in Pullach
  • DER SPIEGEL: Lizenz zum Lügen
  • DER SPIEGEL: Dilettanten im Amt
  • Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des Untersuchungsausschusses
  • Fortress Europe Circular Letter: "Operation Hades": Intelligence Service Stated Plutonium Deal
  • FOCUS Magazin: Freundliche Grüsse aus Moskau
  • Bayerischer Landtag: Schlussbericht des Untersuchungsausschusses
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