Der US-Bürgerrechtler Martin Luther King war einer der prominentesten Kämpfer gegen die Unterdrückung von Afroamerikanern in den USA. Heute würde King seinen 90. Geburtstag feiern, doch er wurde bei einem Attentat am 4. April 1968 ermordet. Der Nordamerikaexperte Sebastian Jobs erklärt, ob Kings Vorstellungen umgesetzt worden sind.
Herr Jobs, glauben Sie, dass Martin Luther King, würde er heute noch leben, zufrieden mit der Situation der Afroamerikaner in den USA wäre?
Sebastian Jobs: Diese Frage kann ich so nicht beantworten. Ich bin Historiker und kein Hellseher und Dr. Martin Luther King ist jetzt ja auch schon seit 50 Jahren tot.
Aber ich kann mich auf die Worte des ersten afroamerikanischen US-Präsidenten
Welche Rechte meinte er?
Dazu muss man sich vorstellen, dass Martin Luther King in den 50er- und 60er-Jahren in den US-Südstaaten aktiv war, in denen noch die sogenannten Jim-Crow-Laws galten, die die Segregation von Schwarzen und Weissen an öffentlichen Institutionen vorschrieben: Schwarze und weisse Schüler mussten unterschiedliche Schulen besuchen und Afroamerikaner waren von Wahlen ausgeschlossen.
All diese Gesetze sind abgeschafft und die rechtliche Gleichstellung von Schwarzen und Weissen ist nicht mehr hinterfragbar.
Die Zustände haben sich also grundlegend verbessert?
Ja, wir leben nicht mehr in den Sechzigerjahren. Nicht zuletzt, weil es möglich ist, einen schwarzen Präsidenten zu haben.
Die Rolle von Barack Obama und seine Sichtbarkeit würde ich überhaupt als sehr, sehr wichtig sehen: Acht Jahre lang hat ein schwarzer Mann im Anzug für alle Menschen in der Welt und in den USA sichtbar jeden Tag hinter dem Siegel "President of the United States" gestanden.
Die schwarze Familie im Weissen Haus ist eine ganz grosse, eine ganz wichtige Errungenschaft gewesen. Aber Obama hat natürlich nicht das Problem des Rassismus in den USA gelöst.
Wie manifestiert sich der Rassismus heutzutage?
Man erkennt ihn etwa in der Polizeigewalt gegen Afroamerikaner, in den schlecht ausgestatteten Schulen, auf die sie gehen, und überhaupt dem Umstand, dass es so etwas wie schwarze Schulen gibt.
Das sieht man auch an der hohen Gefängnisrate von Afroamerikanern: Knapp 40 Prozent der Gefängnisinsassen sind schwarz, obwohl sie nur 13,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das ist eine unglaubliche Überrepräsentation, die zu extremen Nachteilen führen kann. In dem Staat Florida etwa, der einen sehr hohen Anteil schwarzer Bevölkerung hat, wird verurteilten Straftätern das Wahlrecht auf Dauer entzogen.
Hat sich der Rassismus also institutionalisiert?
Das ist eine alltägliche Art von Diskriminierung, wo sich niemand hinstellt und sagt: 'Heute diskriminiere ich mal Schwarze'.
Das hat mit Denkmustern und Wahrnehmungen zu tun, die Schwarze oder Afroamerikaner ganz anders wahrnehmen und gegen die sie ankämpfen müssen.
Neben dem Ende der Segregation forderte Martin Luther King seinerzeit auch einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung. Sehen Sie wenigstens diese Forderung als erfüllt?
In den USA sind die Schulen lokal organisiert und finanziert. Eine Schule, die sich in einem Bezirk befindet, in dem die Leute gut verdienen und daher viel Steuergeld fliesst, ist automatisch besser ausgestattet, was Lehrer, Technik und etwa die Baustruktur angeht, als eine Schule in einem ärmeren Stadtteil.
Und die Sozialstruktur unter Afroamerikanern ist de facto so, dass sie weniger Geld verdienen. Es gibt zwar mittlerweile auch eine wahrnehmbare schwarze Mittelschicht, aber tendenziell ist es so, dass Afroamerikaner ärmer und ihre sozialen Chancen geringer sind.
Also sind Martin Luther Kings Visionen von einem gleichberechtigten Leben noch utopisch?
Man muss bedenken, dass Sklaverei und aktive Diskriminierung gegen Afroamerikaner ab der Einführung der ersten Sklaven 1619 für 350 lange Jahre der Regelfall auf dem nordamerikanischen Kontinent waren.
Insofern sind die 55 Jahre seit Beginn der Bürgerrechtsbewegung gar nicht lang im Vergleich dazu, wie viele Jahre vorher aktiv an diesen rassistischen Strukturen gearbeitet wurde. Das aus den Köpfen herauszubekommen, ist nicht einfach. Und dabei handelt es sich nicht nur um ein wirtschaftliches Problem.
Junge schwarze Männer sind immer gezwungen, sich von aussen zu betrachten: Wie könnte ich wirken, wenn ich in dieses Viertel gehe, wenn ich bestimmte Emotionen zeige? Immer diese Schleife des Anderen mitdenken zu müssen, ist eine Art alltäglicher Diskriminierung, der sich Weisse nicht stellen müssen.
Warum ist das nötig?
Sie verhalten sich so, damit ein Polizist nicht den geringsten Grund hat, ihr Verhalten als aggressiv oder gewalttätig zu interpretieren und sie zu bestrafen oder Sanktionen gegen sie auszuüben, die bis zur Einschränkung der körperlichen Unversehrtheit oder sogar bis zum Tod führen können.
Hat sich die Situation seit Martin Luther Kings Zeiten also gar nicht sonderlich verbessert?
Die alltägliche Gewalt gegenüber schwarzen Menschen in den USA gehört seit über 400 Jahren zu ihrem Alltag: Es gibt körperlich Bestrafungen, körperlicher Einhegung, also Orte die sie nicht betreten dürfen, Viertel in denen sie nicht wohnen dürfen, politische Ämter, die sie nicht innehaben dürfen.
Diese Grenzen werden nicht explizit gesagt, es handelt sich dabei vielmehr um die Fortsetzung alter Strukturen. Da hat sich nichts verschlimmert oder verbessert. Es hat sich gegebenenfalls verschoben oder ist durch andere Codes ersetzt worden.
Was bedeutet das für das Erbe von Martin Luther King? Sind seine Forderungen Realität geworden?
Als Historiker sehe ich Martin Luther King in seiner Zeit, den 1960er-Jahren. Damals war er einer von vielen wichtigen Bürgerrechtlern, die dazu beigetragen haben, wichtige politische Ziele durchzusetzen. Unsere Zeit hat andere Probleme, die am Rande etwas mit Martin Luther King zu tun haben.
Wie steht es um sein wichtigstes Zitat? "Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenbesitzern sich am Tisch der Bruderschaft gemeinsam niedersetzen können."
Hier bezieht Martin Luther Kings sich ja auf die rhetorische Figur des Abendmahls der christlichen Gemeinschaft. Er war ja schliesslich auch Pfarrer.
Aber die USA sind ein Land mit 326 Millionen Einwohnern. Ich glaube, dass diese Idealvorstellung von allen Menschen, die in Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit miteinander an einem Tisch sitzen, niemals in irgendeinem Land umgesetzt werden kann. Es gibt weiterhin viel zu tun, was Rassismus angeht.
Sebastian Jobs ist Geschichtsprofessor und Nordamerikaexperte am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin.
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