Das knappe Votum der Schweizer für eine Begrenzung der Einwanderung hat teilweise heftige Diskussionen ausgelöst. Sind Volksabstimmungen für solche Fragen das richtige Mittel der Entscheidungsfindung? Ein Gespräch mit dem Berliner Politikwissenschaftler Otmar Jung, wie wertvoll direkte Demokratie ist und warum die Schweiz alles richtig gemacht hat.

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Herr Jung, zeigt das Ergebnis der jüngsten Volksabstimmung Ihrer Ansicht nach auch die Grenzen einer solchen Entscheidung?

Jung: Die aktuelle Diskussion ist für mich grundsätzlich falsch, weil sie sich am Ergebnis einer Einzelabstimmung festmacht. Es gibt Fehlurteile – wird deswegen die Justiz in Frage gestellt? Aus der politischen Sicht finde ich es sehr gut, dass überhaupt eine Volksabstimmung zu dem Thema stattgefunden hat. Denn ich sehe gerade in der Frage der Einwanderung eine Kluft zwischen Eliten und Bevölkerung, in allen EU-Staaten. Die Eliten setzen ihre Politik, die von unten oftmals nicht gebilligt wird, einfach fort. Was wir am Sonntag erlebt haben, ist endlich einmal ein exakter Messwert, wie die Schweizer über die sehr grosse Einwanderung denken. Dieses Denken wird bewusst nicht erhoben in anderen Ländern. Was die Schweizer taten, ist ein ganz positiver Vorgang, unabhängig davon, wie man die konkrete Entscheidung bewertet.

Dafür muss die Schweiz jetzt auch mit den gravierenden Folgen des Votums leben ...

Das sehe ich so nicht. Ein Grossteil der Reaktionen ist überzogen. In der jetzt angenommenen Vorlage wird ja nicht dazu aufgefordert, dass die Schweiz sich vertragswidrig verhält. Sie muss natürlich völkerrechtliche Abmachungen einhalten. Aber: Man kann ja Verträge kündigen. Deswegen ist eine Drei-Jahres-Frist vorgesehen. Die Schweizer Regierung wird an die EU herantreten und sagen: Wir wollen hier eine neue Verhandlung. Dann könnte man fragen, was die Schweiz als Gegenleistung bringt. Da könnte ich mir etwa vorstellen, dass sie ihre Finanzpraktiken herunterfahren muss. Man wird darüber reden, und das ist politisch sinnvoll nach einem solch starken Votum.

Was ändert das im Bezug auf die Europäische Union?Es gab ja schon eine ganze Reihe schwieriger Volksabstimmungen, etwa über den Lissaboner Vertrag und die Europaverfassung. Da waren aber keine völkerrechtlichen Verträge geschlossen, sondern man hat nur bedauert, dass in Frankreich und Holland eine europäische Verfassung abgelehnt wurde. In Irland liess man zweimal abstimmen, um den Vertrag von Nizza zur EU-Erweiterung durchzubekommen. Neu ist aber sicher, dass jetzt eine Regierung Verträge neu verhandeln muss, das hatten wir bislang noch nicht. Eine Anpassungsmöglichkeit muss bei Verträgen aber immer gegeben sein.Welche Grenzen sehen Sie generell für Volksabstimmungen, dürfen diese thematisch eingegrenzt werden?Jung (lacht): Das ist natürlich die Lieblingsvorstellung aller Gegner der direkten Demokratie, wenn sie schon Volksabstimmungen zulassen, dann nach der Art eines Schweizer Käses. Mit ganz vielen Löchern: keine Finanzen, keine Grundrechte, keine Todesstrafe, keine Aussenpolitik, kein Militär. Da bleibt dann irgendwann nichts mehr übrig. Es ist aber nicht sinnvoll, dass man ein Instrument erst einführt und dann entkernt. Wenn man das auf Bundesebene einführen will, muss gelten: Alles, was das Parlament durch Gesetz beschliessen kann, kann auch das Volk beschliessen.

Brauchen wir Volksabstimmungen, um Demokratien zu bewahren, siehe die wachsende Zahl von Nichtwählern?Wenn alle Leute hochzufrieden wären, begeistert zu Wahlen gingen und niemand glaubt, von oben ignoriert zu werden, dann hätten wir wahrscheinlich diese Diskussion nicht. Die kommt eben, weil diese Unzufriedenheit da ist. Und sie wird sich fortsetzen. Darum könnte man provokativ sagen, dass es besser wäre für die repräsentative Demokratie, wenn sie sich ein Stück zurücknähme.Das heisst genau?Nun, man könnte den momentanen Zustand etwas überspitzt "repräsentativer Absolutismus" nennen. Politiker werden gewählt und fühlen sich vier oder fünf Jahre einfach als die Herren, die regieren. Es fehlt aber die Rückkoppelung mit dem, was die Menschen meinen. Zwar wird durch die Demoskopie schon nach unten gehört, aber das Votum der Bürger wird nicht wichtig genommen. Und das ist der Unterschied zur Schweiz, der zwischen Demoskopie und direkter Demokratie.


Dr. Otmar Jung ist Privatdozent im Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die direkte Demokratie in Deutschland. Er ist Mitherausgeber des seit 2009 jährlich erscheinenden Jahrbuches für direkte Demokratie.
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