Hat das Schweizer Volk über eine schöne Vorlage abgestimmt? Nein, sie war schön gemeint, aber wüst serviert. Doch beim Abstimmen ist es wie beim Heiraten: Ja sagt nur, wer weiss, dass sein Wort etwas Schönem gilt. Eine Analyse.

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Im Kanton Appenzell gibt es seit Jahrhunderten den Brauch der Silvesterkläuse, von ihnen gibt es "die Schönen" – reich verzierte, liebliche Kläuse – und "die Wüsten", grobe, furchterregend derbe Figuren.

Mitte des letzten Jahrhunderts entstand eine neue Sorte dieser Kläuse. Sie waren reich verziert, lieblich gemacht, zugleich aber aus Tannzapfen gebastelt oder aus Holz grob geschnitzt. Die Appenzeller nannten diese Figuren die "Schön-Wüsten".

Es ist der Name für die Figur eines tanzenden Widerspruchs, so gut wie schlecht, weder lieb noch bös. "Schön-Wüst" ist der Name für ein ansehnliches Irgendwas. "Austariert" würde Innenminister Berset diese Kläuse wohl nennen, denn so nannte er seine Rentenreform gebetsmühlenartig, wo immer er diese mit Eifer vertrat, so, wie noch kaum ein Bundesrat je eine Vorlage vertreten hatte. Nun ist er damit gescheitert, krachend.

Kein Fussbreit den Gegnern

Bemitleiden muss man ihn nicht, er hatte hoch gepokert. Als das Parlament im März die Rentenreform behandelte, war kaum Widerstand möglich gegen den Druck, mit dem der einstige Strategieberater Alain Berset sein Projekt durch die beiden Volkskammern steuerte. Kein Fussbreit wichen er, der Innenminister, und seine Renten-Ingenieure der sozialdemokratischen Partei SP im Parlament von ihren Forderungen ab.

Mit Hilfe der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP brachte die SP ihre Vorlage so praktisch ohne Abstriche durch ein bürgerlich dominiertes Parlament. Das klappte, weil die Sozialdemokraten unnachgiebig blieben und ihr Bundesrat geschickt taktierte.

Im Abstimmungskampf der letzten Wochen betonte Berset zwar, wie lange das Parlament an dieser Vorlage gearbeitet hatte. In Tat und Wahrheit war es lange blockiert durch die Kompromisslosigkeit, die seinem ambitionierten Projekt von Anfang an innewohnte.

Ausfransender Flickenteppich

Die unseligen Umstände bei der Entstehung der Rentenreform im Parlament mögen vielen Stimmbürgern nicht so bewusst gewesen sein, als sie ein Nein in die Urnen legten. Aber Bersets Kampf und die Krämpfe des Parlaments spiegelten sich in jeder Faser dieser Vorlage, und der Fasern gab es zur Genüge. Die Rentenreform franste einem Flickenteppich ähnlich an allen Enden aus. Von eidgenössischer Präzisionsarbeit zeugte sie nicht.

"Ist die Rentenreform nicht einfach zu kompliziert? Sie ist doch überladen." Es war eine einfache Frage an den Innenminister, gestellt von der Zeitung "Blick". Die Antwort sprach Bände: Berset sagte Nein und Ja zugleich. Seine Replik ging so: "Nein. Es geht um grundsätzliche Entscheidungen über die AHV und die zweite Säule. Dazu müssen wir Sorge tragen. Dass die Renten der AHV nicht sinken, dass die Teilzeitjobs besser abgesichert und dass AHV und zweite Säule gestärkt und ausreichend finanziert sind."

Soviel war also drin in dieser Vorlage, dass sie gar zweifach bejaht oder verneint werden musste. Viele waren allein damit schon überfordert: Dass die beiden Fragen zur Rentenreform nur gleichlautend mit zweimal Ja oder zweimal Nein beantwortet werden konnten.

Nicht das Bessere, das Ungewisse gewählt

Wie geht es weiter? Das Nein des Volks hat einen disruptiven Zug. Wer Nein sagte, wählte nicht das Bessere, nur das Ungewisse. Im Vertrauen darauf, dass die Zeit, das Parlament oder eine bald auftauchende Dringlichkeit die nächste Vorlage besser macht. Es gibt bei der Unternehmenssteuerreform – einer ähnlich verworrenen Vorlage – einen Plan B.

Es wird ihn also auch bei der Rentenreform geben, so das Kalkül der Mehrheit, die den apokalyptischen Prophezeiungen Bersets keinen Glauben schenkte. Destruktiv ist das Nein darum nicht. Kein Stimmbürger und keine Stimmbürgerin ist wohl gegen eine Sanierung der AHV, niemand ist gegen den Generationenvertrag. Das sollten die Verlierer bedenken, wenn sie ihre Gegner nun zu Zerstörern des Schweizer Altersvorsorge stempeln, es träfe die Sache nicht.

Wieder ohne Lösung

Doch Schmerzen bleiben. Die heftigsten spüren die Auslandschweizer, die mit deutlicher Mehrheit für Alain Bersets Rentenreform waren. Sie hätten die 70 Franken verdient, sie verzichten schliesslich auf Ergänzungsleistungen. Wer in der Schweiz auf einen Zustupf zur Rente hoffte, erhält diesen vorderhand nicht, auch da bleibt ein Stich. Weh tut schliesslich allen, dass die Schweiz in diesem so wichtigen Dossier wieder und immer noch ohne Lösung dasteht.

Das Volk erwartet nun, dass die Politiker Widersprüche auflösen, Komplexität reduzieren, Kompromisse machen – oder einfacher gesagt: die Arbeit machen, für die sie gewählt wurden.   © swissinfo.ch

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