Die Entscheidung, seine parteiinternen Gegner aus der Fraktion zu werfen, fällt Boris Johnson auf die Füsse. Der Unmut über den britischen Premier wächst. Nun hat selbst Johnsons Bruder genug: Zerrissen zwischen "Loyalität zur Familie und nationalem Interesse" tritt der Tory-Abgeordneter nun zurück.
Der britische Premierminister
"Ich war in den vergangenen Wochen zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse - es ist eine unauflösbare Spannung", schrieb Jo Johnson zur Begründung auf Twitter.
Der Premierminister hatte zuvor 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die im Streit um seinen Brexit-Kurs gegen die eigene Regierung gestimmt hatten. Darunter sind so prominente Mitglieder wie der Alterspräsident und ehemalige Schatzkanzler Ken Clarke und der Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.
Brexit mit unabsehbaren Konsequenzen
Boris Johnson will sein Land am 31. Oktober notfalls ohne Abkommen aus der EU führen, sollte Brüssel sich nicht auf seine Forderungen nach Änderungen am Brexit-Deal einlassen, den seine Vorgängerin Theresa May ausgehandelt hatte. Viele Politiker, auch Konservative, halten das wegen der unabsehbaren Konsequenzen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche für einen schweren Fehler.
Die gemässigte One-Nation-Gruppe in der Tory-Fraktion veröffentlichte eine Erklärung, in der sie den Regierungschef dazu aufforderte, die verbannten 21 Fraktionsmitglieder wieder aufzunehmen: "Die Massnahmen in den vergangenen Tagen, die Fraktion von gemässigten Mitgliedern zu säubern, sind prinzipiell falsch und schlechte politische Praxis."
Der Regierungschef verteidigte sein Vorgehen in einem Interview mit dem TV-Sender itv. "Das sind meine Freunde, glauben Sie mir, ich habe absolut kein Vergnügen an all dem." Es sei aber "sehr traurig und überraschend" gewesen, dass sie sich entschieden hätten, Grossbritanniens Chancen auf einen Deal mit der EU zu schmälern.
Johnson hatte vergeblich versucht, ein Gesetzesvorhaben im Unterhaus zu stoppen, das einen ungeregelten EU-Austritt Grossbritanniens verhindern soll. Da am Mittwoch auch ein Antrag Johnsons auf eine Neuwahl abgelehnt wurde, verlor seine Regierung binnen nur zwei Tagen insgesamt vier Abstimmungen. Der Gesetzentwurf soll bis Freitagabend auch von den Lords im Oberhaus gebilligt werden.
Dort versuchten Brexit-Hardliner mit einer Flut von Anträgen und Dauerreden zunächst das Gesetz zu stoppen. Doch am frühen Donnerstag gaben sie nach: Regierung und Opposition einigten sich darauf, die Debatte nicht ins Wochenende hineinzuschleppen. Das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll, scheint damit rechtzeitig vor der Zwangspause des Parlaments in Kraft treten zu können.
Angesichts der Debatte über eine mögliche Neuwahl lassen sich immer mehr junge Briten als Wähler registrieren. Die Anträge zur Registrierung von Neuwählern hätten in dieser Woche "dramatisch" zugenommen, berichtete die Nachrichtenagentur PA. Im August hatten im Schnitt knapp 22 000 Menschen täglich beantragt, sich als Wähler zu registrieren. In dieser Woche seien es im Schnitt bereits mehr als 66 000 Menschen pro Tag gewesen. Die Zahl hat sich also verdreifacht.
Drohung an Brüssel
Johnson will Brüssel mit der Drohung eines ungeregelten EU-Austritts zu Zugeständnissen bringen. Seine Kritiker warnen dagegen vor erheblichen Folgen vor allem für die britische Wirtschaft und viele weitere Lebensbereiche, wenn das Land ohne Übergangsfristen aus der Staatengemeinschaft herausbricht.
Hinter der harten Vorgehensweise Johnsons sehen viele den Einfluss seines Beraters Dominic Cummings. Der Wahlkampfstratege leitete bereits die Kampagne Johnsons beim Brexit-Referendum 2016. Cummings gilt als skrupellos und macht keinen Hehl daraus, dass er das politische System gehörig umkrempeln will.
Das Gesetz gegen den ungeregelten EU-Austritt soll Johnson dazu zwingen, eine dreimonatige Verlängerung der am 31. Oktober auslaufenden Brexit-Frist zu beantragen, falls bis zum 19. Oktober kein Abkommen mit der EU ratifiziert ist.
Die No-Deal-Gegner hatten unter enormem Zeitdruck gestanden, weil Johnson dem Parlament eine Zwangspause auferlegt hat. Der Versuch, die Schliessung gerichtlich zu stoppen, scheiterte bislang.
Ein Gericht in Schottland wies die Klage einer Gruppe von Parlamentariern am Mittwoch ab mit der Begründung, es handle sich nicht um eine juristische, sondern eine politische Frage. Doch bereits an diesem Donnerstag gab es eine Anhörung vor dem Berufungsgericht in Edinburgh. Auch der High Court in London wollte sich mit dem gleichen Thema befassen.
Mit Spannung wird erwartet, ob der Premier am Montag einen neuen Versuch unternimmt, eine Parlamentswahl herbeizuführen. Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei kündigte an, er werde einer Neuwahl erst zustimmen, wenn das Gesetz gegen den No Deal in Kraft getreten ist. Diese Bedingung wäre am Montag erfüllt.
Johnson hatte sich am Mittwoch pessimistisch geäussert, noch einen neuen Austrittsdeal mit der EU vereinbaren zu können. Die Chancen dafür seien "schwer beschädigt, wenn nicht komplett zugrunde gerichtet worden" durch den Gesetzentwurf gegen den No Deal.
Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag. Die EU-Seite steht auf dem Standpunkt, dass sie gesprächsbereit ist, falls Johnson konkrete neue Vorschläge machen sollte. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.
Kommt es zum spontanen Brexit?
Wie die EU im Falle eines ungeregelten Brexits Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden will, ist nach wie vor unklar. Die im Austrittsabkommen vorgesehene Backstop-Lösung sei dafür die "einzige Option, die gefunden wurde", erklärte die Kommission. Bei einem Austritt ohne Vertrag wäre diese aber hinfällig.
Johnson will nun am 15. Oktober wählen lassen, um mit einem Mandat beim EU-Gipfel zwei Tage später zu erscheinen. EU-Diplomaten schätzen die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal bei dem Gipfel jedoch ebenfalls als gering ein. "Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken", hiess es aus EU-Kreisen. (jwo/dpa) © dpa
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