Wie ist der Erfolg der AfD zu erklären? Eine sogenannte "Bequemlichkeitsverblödung" der Bürger bringe die Demokratie in Gefahr, warnen Politologen. Eine falsche These, sagt Demokratieforscher Markus Linden. Auch er sieht die deutsche Demokratie in der Krise – aber die Schuld nicht bei den Bürgern.

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Der grosse Erfolg der Alternative für Deutschland stellt nicht nur die etablierten Parteien vor Rätsel, sondern auch Medien und Wissenschaftler. Wer wählt diese rechtspopulistische Partei? Und warum?

Klar scheint erst einmal nur, dass die AfD einen Wandel ausgelöst hat. Und in Zeiten des Umbruchs melden sich naturgemäss auch die Apokalyptiker zu Wort: Alles geht den Bach herunter.

Deutsche Demokratie am Abgrund

Frankreich kennt dieses Phänomen seit Jahren, führende Intellektuelle predigen den Untergang, Bücher wie Eric Zemmours "Der französische Selbstmord" werden zu Bestsellern.

Auch in Deutschland melden sich Pessimisten, die die Demokratie auf dem Weg in den Abgrund wähnen. Eine "kollektive Bequemlichkeitsverblödung" diagnostizierte jüngst der Politpsychologe Thomas Kliche.

Wenn die Bürger nur an Dschungelcamp und ihren Urlaub denken, stehe es schlecht um die Demokratie.

Der Erfolg der AfD, ein Symptom der grösseren Krise der Demokratie also? Und der Wähler zu "verblödet", um den Populisten zu widerstehen? "Das ist eine krude, gehaltlose Verfallsthese, die halt gerade gut passt", sagt Politikwissenschaftler Markus Linden von der Universität Trier im Gespräch mit unserer Redaktion.

Er sieht die Demokratie in einer immanenten Dauerkrise: "Die Demokratie ist immer in Gefahr, weil sie die einzige Regierungsform ist, die sich selbst abschaffen kann."

Zu dumm für Demokratie?

Mit den Bürgern hat das aber nichts zu tun, meint Linden: "Ein Volk, das zu dumm ist für die Demokratie, das gibt es nicht. Es gibt Teile der Bevölkerung, die vertreten vorsintflutliche Ideen.

Aber es ist die Aufgabe der Parteien, diese Einstellungsmuster zu moderieren, zu beeinflussen, diesen Leuten Angebote zu machen." Tatsächlich können viele der Wähler, das zeigen Befragungen, nichts mehr mit den etablierten Parteien anfangen.

In Sachsen-Anhalt sagten nur 27 Prozent der AfD-Wähler, sie seien von der Partei überzeugt. 64 Prozent sagten, sie seien von den anderen Parteien enttäuscht. So sieht eine klassische Protestwahl aus.

Da könnte, wenn man denn wollte, auch ein Fünkchen Wahrheit in der "Verblödungsthese" erkenne. "Diese Leute sind schon ein wenig irrational, wenn sie eine Partei nur aus Protest wählen", sagt der Demokratieforscher Markus Linden.

"Aber das ist ja kein pathologischer Prozess, sondern es geschieht aus Alternativlosigkeit."

Es ist die Alternativlosigkeit, die bei Linden Besorgnis über den Zustand der Demokratie auslöst. "Wenn Demokratie bedeutet, dass man die Regierung abwählen kann - dann sind wir in einer Krise."

Wer in Baden-Württemberg den CDU-Kandidaten Guido Wolf gewählt habe, bekomme nun Winfried Kretschmann – und Wolf geht mit in die Regierung. "Das tun die AfD oder die Linkspartei nicht."

Den Aufstieg beider Parteien analysiert er als Reaktion auf eine Konsenspolitik – im Falle der Linkspartei bei Hartz IV, im Falle der AfD zunächst in der Eurokrise.

Die entscheidenden Abstimmungen über diese Themen wurden jeweils mit grossen Mehrheiten beschlossen. "Die Bevölkerung muss doch eine Opposition wenigstens identifizieren können", sagt Linden. "Da gibt es ein Defizit, eine Lücke, in die jetzt die AfD hineinstösst."

Protest besser als Apathie

Der Niedergangsthese hält Linden eine zumindest tendenziell positive Lesart des AfD-Aufstiegs entgegen. "Einerseits ist das sicher schlecht – da bricht sich fremdenfeindlicher Rechtspopulismus Bahn. Andererseits ist es eine Reaktion der Gesellschaft auf Repräsentationsdefizite, und das ist besser als Apathie."

Der Forscher beobachtet eine zunehmende Politisierung. Allerdings habe man da lange zu grosse Hoffnungen in die digitale Demokratie gesetzt. "Die breite Öffentlichkeit im Internet schafft Ablehnungsgemeinschaften. Es ist schwer, hier so etwas wie produktives Handeln zu erreichen."

Die Diskussion um die Politik im Netz findet schon lange unter dem Schlagwort "Verrohung des öffentlichen politischen Diskurses" statt. Der Medienwissenschaftler Andreas Dörner von der Universität Marburg fühlte sich jüngst an die Gewaltrhetorik der Weimarer Republik erinnert.

Es ist ein Schritt hin zum Stammtisch, zum Populismus, der sich dann in guten Wahlergebnissen für Parteien wie die AfD niederschlägt. Aber auch das muss kein schlechtes Zeichen sein, meint Demokratieforscher Markus Linden.

"Es ist auch die Rückkehr der politischen Leidenschaft. Die Existenz solcher Bewegungen und ihre Darstellung in Parlamenten sind besser als Apathie."

"Die Demokratie ist alternativlos"

Die Apologeten des Niedergangs aber sind skeptisch. Der Politpsychologe Thomas Kliche sagte, die Forschung rede schon von einer "Spät- oder Untergangsphase der Demokratie".

Wenn man mit dem Forscher Markus Linden spricht, drängt sich der Eindruck auf, Kliche verkürzt da einiges. "'Die Forschung' ist schon mal ein schlechter Begriff. Er bezieht sich da auf Colin Crouchs Postdemokratie", erklärt Linden.

Colin Crouch konstatierte, dass die Demokratie quasi nur noch als Hülle existiere. Es gebe Parteien, Parlamente und freie Wahlen. Die eigentliche Entscheidungsgewalt sei jedoch schon lange auf die grossen Konzerne und ihre mächtigen Lobbyorganisationen übergegangen.

Es ist eine einflussreiche These, aber eben nur eine unter vielen, die eine Krise der Demokratie zum Thema haben.

"Einer wie Sarrazin sagt, es gibt derzeit keine rationale Politik. Crouch sagt, es wird keine Politik für die unteren Schichten gemacht. Kliche sagt, die Irrationalität des Populismus sei pathologisch. Aber keiner legt seine Demokratie-Kriterien offen", sagt Linden.

Klar konstatieren lässt sich allerdings: Selbst in Europa entwickeln sich gerade Demokratien wieder zurück – in Technokratien oder wie in Ungarn und Polen gar in autoritäre Systeme.

Kann das auch in Deutschland passieren? Und was würde dann kommen? "Eigentlich sollte man darüber nicht sinnieren, die Demokratie ist alternativlos", sagt Linden. Die Frage sei vielmehr: "Was kann man dem entgegensetzen?"

Der Politologe vertraut auf die Kraft der Demokratie: "Ich würde auf klassische Demokratie setzen, auf Parteien und Parlamente. Es ist doch gut, wenn sich die AfD mit ihrem zweifelhaften Programm im Parlament verteidigen muss."

Privatdozent Dr. Markus Linden ist Politikwissenschaftler im Forschungszentrum Europa an der Uni Trier. Er beschäftigt sich mit Fragen der Demokratietheorie und empirischen Demokratieforschung.
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