- Wenn über die afghanischen Ortskräfte gesprochen wird, geht es meist um nackte Zahlen.
- Doch wie erleben die betroffenen Menschen ihre Flucht vor den Taliban?
- Dies ist die Geschichte von Nadia Serat und ihrer dramatischen Flucht vor der eigenen Familie.
Wenn man Nadia Serat nach ihren ersten Eindrücken von Deutschland fragt, dann hört man keines der üblichen Klischees von Ordnung, Sauberkeit oder Bierkonsum. "Ich fühle mich hier sehr sicher und ruhig", sagt Serat im Gespräch mit unserer Redaktion. Das klingt wenig überraschend, wenn man ihre Geschichte kennt.
Nadia Serat war eine der Ortskräfte in Afghanistan. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt sie gerade mal eine Woche in Frankfurt. Hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Sorge um ihre Familie und ihre Kollegen.
Sie ist noch ein Teenager, als sie im Camp Marmal zu arbeiten beginnt, dem Feldlager der Bundeswehr in der Nähe der Stadt Masar-e-Scharif. Über eine Freundin hatte sie erfahren, dass es dort gute Jobs gäbe. Sie sendet ihre Unterlagen und erhält eine Stelle als Medienanalystin im Bayan-e Shamal Media Center.
Das war 2008. Erst mit dem Abzug der Bundeswehr im Juni 2021 endet auch die Anstellung von Nadia. Praktisch ihr gesamtes Berufsleben hat sie für die Deutschen gearbeitet.
Anonyme Killer, gezielte Tötungen
Doch mit dem Ende des Militäreinsatzes und dem wachsenden Einfluss der Taliban beginnt eine Odysee für Nadia. "Wir beschlossen Masar-e-Scharif zu verlassen, da es für uns nicht mehr sicher war", sagt die 29-jährige. Sie berichtet von gezielten Tötungen und anonymen Killern. "Es war einfach niemand da, der sich um die Sicherheit gekümmert hätte. Es war eine schlimme Situation für alle."
Nadias Mann ist Arzt und forscht an einem Medikament gegen COVID-19. Er bereitet gerade eine Veröffentlichung in internationalen Fachmagazinen vor, als die Taliban immer mehr an Macht gewinnen. Die beiden beschliessen, aufs Land zu ziehen, in die Provinz Tachar zu Nadia Serats Schwiegervater.
Sie gründen eine kleine Klinik, Nadia arbeitet dort mit. Dass sie vor Kurzem noch für die Bundeswehr gearbeitet hat, hält sie geheim – auch vor ihrem Schwiegervater. Denn der ist ein Sympathisant der Taliban.
Angst vor der Aufdeckung – wenn der eigene Schwiegervater zu den Taliban überläuft
Und die gewinnen irgendwann auch die Kontrolle über das Gebiet, in dem Nadia mit ihrem Mann nun lebt. Die beiden akzeptieren die Situation zähneknirschend – selbst als Nadias Schwiegervater eine Taliban-Flagge auf ihrer Klinik hisst.
Anfangs versuchen sie mit dem Schwiegervater zu argumentieren. "Mein Mann hatte viele Auseinandersetzungen mit ihm über das Thema, aber es ist einfach nicht möglich, die Menschen zu überzeugen", erklärt Nadia, und man merkt ihr die Frustration deutlich an. "Er sagte nur, die Taliban seien die wahren Moslems, und wir müssten sie unterstützen."
Während der Schwiegervater sich also bewaffnet und den Taliban anschliesst, wägt Nadia mit ihrem Mann die Möglichkeiten ab: "Wir sprachen immer wieder darüber, was wohl passieren würde, wenn alle von meiner Arbeit wüssten."
Diese Frage bleibt unbeantwortet. Nadia fragt bei ihren ehemaligen Kollegen in Masar-e-Scharif, ob es eine Möglichkeit gäbe, sie und ihren Mann nach Deutschland zu bringen. Und dann geht es plötzlich ganz schnell.
Überstürzte Flucht – "Afghanistan war einfach nicht mehr sicher für uns"
Über Masar-e-Scharif reisen die beiden nach Kabul – vorbei an brennenden Häusern, zerstörten Fahrzeugen und Maschinen. "Afghanistan war einfach nicht mehr sicher für uns", sagt Nadia. Nadias Familie – ihre Mutter, eine Schwester und ein Bruder – sind die einzigen, die sie in ihre Pläne einweiht. Die Mutter zeigt sich besorgt, bestärkt sie aber in dem Beschluss, das Land zu verlassen.
Die - konservativere - Familie ihres Mannes wird dagegen nicht eingeweiht. Und doch dringt die Nachricht zu Nadias Schwiegervater, der prompt nach Kabul reist, um die beiden von der Ausreise abzuhalten. "Er hat uns unzählige Male angerufen", erzählt Nadia, "drohte damit, uns bei den Talibanführern anzuschwärzen." Doch die beiden halten ihren Aufenthaltsort in einem Hotel geheim. Inzwischen weiss auch er, dass die beiden in Deutschland angekommen sind.
Nadia Serat verspürt viel Dankbarkeit gegenüber der Bundeswehr, wie sie nicht müde wird zu betonen. Ihre Betreuer machten einen "fantastischen Job". Und doch sei es nicht leicht, sein Land einfach hinter sich zu lassen und in ein fremdes Land zu gehen. "Hier zu leben ist nicht einfach für uns. Wir kennen die Sprache nicht, wir kennen die Kultur nicht. Alles ist schwierig. Aber das müssen wir akzeptieren."
Sorgen um Familie und Kollegen – "Wenn ich an Afghanistan denke, kann ich die Tränen nicht stoppen"
Vor allem aber quält es sie, das eigene Land im Krieg zu sehen. "Immer wenn ich an die Situation in Afghanistan denke, muss ich weinen und kann die Tränen nicht stoppen", sagt sie. Unablässig grübelt sie darüber, warum die Alliierten das Land den Taliban überliessen.
Bei dem Thema hat sie eine klare Position: "Es war nicht die richtige Zeit für die Alliierten, das Land zu verlassen. Zumindest am Flughafen in Kabul hätten sie bleiben sollen. Denn es gibt Hunderte Menschen, die für die verschiedensten Organisationen arbeiten. Die meisten davon sind immer noch in Kabul – auch meine Kollegen. Und meine Familie ist auch dort. Jeden Tag machen wir uns Sorgen um meine Familie."
Am Telefon schildert ihre Mutter die Situation in Kabul. Leere Strassen, Frauen sind kaum mehr zu sehen, eine gespenstische Atmosphäre.
Die Zukunft ihres Landes malt Nadia Serat dementsprechend düster: "Ich glaube nicht, dass sich das Land gut entwickeln wird. Es wird sich alles zum Negativen wenden. Denn die Taliban haben nun mal keine gute Bildung. Das sind Menschen, die aus den Bergen kommen, und plötzlich sitzen sie in Büros, in Regierungsabteilungen, im Palast in Kabul. Wie sollen solche Leute eine Regierung auf die Beine stellen?"
Hoffen auf die Zukunft – "das einzige, was ich mir wünsche, ist, dass die Taliban besiegt werden"
Für ihre eigene Zukunft hat Nadia bereits Pläne. Die ausgebildete Journalistin will schnell Deutsch lernen und – soweit möglich – einen Masterabschluss machen. Ihr Mann hoffe, seine Forschungsarbeit an COVID-19-Medikamenten fortsetzen zu können. "Sollte sich etwas in Afghanistan ändern, dann gehen wir zurück."
Ob sie sich etwas wünsche? "Das einzige, was ich mir wünsche, ist, dass die Taliban besiegt werden. Ich will nicht, dass die Religion der Taliban den Menschen aufgezwungen wird."
Trotz allem bereut Nadia Serat nicht, dass sie für die Bundeswehr gearbeitet hat. "Im Gegenteil!" sagt sie voller Überzeugung. "Ich bin sehr glücklich darüber. Ich habe in der Zeit viel gelernt, mein Wissen erweitert, viele wertvolle Erfahrungen gemacht, viele neue Dinge gelernt. Wenn ich wieder die Chance bekäme, für die Bundeswehr zu arbeiten, würde ich es wieder tun."
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