• Nur zehn Tage hat der Eroberungsfeldzug der Taliban durch Afghanistan gedauert.
  • Nach Kandahar, Dschalalabad und Masar-i-Scharif marschierten Kämpfer der radikalislamischen Miliz am Sonntag in der Hauptstadt Kabul ein.
  • Wie kann es sein, dass eine mit Dutzenden Milliarden Euro hochgerüstete Armee fast ohne Gegenwehr innerhalb kürzester Zeit überrannt wird?
Eine Analyse

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Kabul ist gefallen und damit das ganze Land. Zwei Jahrzehnte nach ihrem Sturz sind die Taliban am Sonntag ins Zentrum der Macht in Afghanistan vorgerückt. Nach ihrem blitzartigen Vormarsch feierten bewaffnete Kämpfer der radikalislamischen Miliz im Präsidentenpalast in Kabul ihren erfolgreichen Feldzug gegen die afghanische Regierung.

Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie sich Dutzende Bewaffnete im Amtssitz des Staatschefs aufhielten. Die Taliban hätten das Land mit ihrer "siegreichen" Offensive "befreit", sagte einer von ihnen dem TV-Sender Al-Dschasira.

Nur zehn Tage hat der Eroberungsfeldzug der Taliban durch Afghanistan gedauert. Die Regierung gab am Sonntag auf und erklärte sich zur Machtübergabe bereit. Präsident Aschraf Ghani floh ins Ausland, auf Facebook erklärte er: "Die Taliban haben gesiegt."

Wie kann es sein, dass eine fast zwei Jahrzehnte lang vom Westen ausgebildete und mit Dutzenden Milliarden Euro hochgerüstete Armee fast ohne Gegenwehr innerhalb kürzester Zeit überrannt wird?

300.000-Mann-Armee – zumindest auf dem Papier

Die Islamisten hatten in den vergangenen Tagen eine afghanische Stadt nach der anderen eingenommen, zuletzt neben Kandahar, der zweitgrössten Stadt Afghanistans, auch das strategisch wichtige Dschalalabad im Osten und den früheren Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif im Norden des Landes. Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai löste international Fassungslosigkeit aus.

Auf dem Papier umfassen die afghanischen Sicherheitskräfte – Armee und Polizei – rund 300.000 Mann. Unklar ist, wie viele Sicherheitskräfte mittlerweile den Dienst quittiert haben – und wie viele überhaupt nur auf dem Papier existierten. Die Schlagkraft der Taliban ist noch vager. Es kursieren Schätzungen zwischen 50.000 bis 100.000 Kämpfern, deren Zahl wohl durch die jüngsten Erfolge weiter stieg.

"Geld kann keinen Willen kaufen"

Die US-Regierung gibt ihrem Verbündeten die Hauptschuld an der Niederlage. Sie warf der afghanischen Führung und den Sicherheitskräften mangelnde Kampfbereitschaft vor. Es sei "beunruhigend" zu sehen, dass die politische und militärische Führung nicht den "Willen" gehabt habe, sich dem Vormarsch der militanten Islamisten zu widersetzen, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, dem Sender CNN am Freitag.

Kirby zufolge seien die afghanischen Sicherheitskräfte den Taliban in Bezug auf Ausrüstung, Training und Truppenstärke überlegen und verfügten über eine eigene Luftwaffe. Mit Blick auf die finanzielle Unterstützung der US-Regierung für die Sicherheitskräfte fügte er hinzu: "Geld kann keinen Willen kaufen." Dafür sei die politische und militärische Führung der Afghanen zuständig. Die USA haben insgesamt 83 Milliarden Dollar in die Ausbildung der afghanischen Armee investiert.

"Wir haben die afghanische Armee blind ins Feld geschickt"

Laut dem Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München begannen die Probleme mit dem schrittweisen Abzug der USA. Damit hätte Afghanistans Armee "wichtige Hilfen verloren", wie Luftunterstützung, Aufklärungsfähigkeiten sowie die Firmen, die die Wartungsarbeit übernehmen. "Wir haben die afghanische Armee blind ins Feld geschickt", sagte Masala dem "Münchner Merkur".

Ex-US-Navy-Admiral James G. Stavridis gab sich auf Twitter ebenfalls selbstkritisch. Er nannte mehrere Gründe, die seiner Ansicht nach schliesslich zum Fall Kabuls führten: "Die afghanische Regierung zeigte keine Führung, die Taliban verstärkten sich und funktionierten, indem sie ihre Unterstützung aus Pakistan nutzten, und das US-Militär, mich selbst einbezogen, scheiterte an unserer Mission, eine afghanische Armee aufzubauen, die kämpfen würden."

Das Vorhaben der NATO, in Afghanistan eine hochmoderne Armee nach US-Vorbild aufzubauen, ging an den Bedürfnissen und Verhältnissen vor Ort völlig vorbei. Die komplexe Struktur und Logistik sowie Versorgungswege zu einem Grossteil über die Luft, konnten nur mit westlicher Unterstützung funktionieren, schreibt die "Neue Zürcher Zeitung".

Kritik an der NATO-Strategie

Bereits am vergangenen Dienstag hatte der Politikwissenschaftler Markus Kaim von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gegenüber "Tagesschau.de" das Vorgehen der NATO kritisiert. Die SWP berät unter anderem auch die Bundesregierung.

"In einem westlichen Glauben an das Machbare hat man auf technische Aspekte wie den Ausbildungs- und den Ausrüstungsstand verwiesen und dabei ausgeblendet, dass eine zentrale Frage die der politischen Loyalität ist", sagte Kaim. Aus seiner Sicht waren die Streitkräfte nicht der Zentralregierung, sondern eher lokalen Machthabern, Warlords und anderen Akteuren loyal.

Bis zu ein Drittel des Personals musste Jahr für Jahr ersetzt werden, wegen "Verlusten, Desertion und [...] Nichtverlängerung des Dienstverhältnisses", schrieb der Aussenexperte Nils Wörmer bereits 2013 in einer SWP-Analyse. Er warnte damals: "Die Formierung einer gemeinsamen Identität der Streitkräfte und die Stärkung ihres inneren Zusammenhalts sind unter diesen Umständen erheblich erschwert."

Dazu kommt die grassierende Korruption. Höhere Posten in der Armee, bei der Polizei und beim Geheimdienst seien oftmals an Günstlinge von mächtigen Warlords vergeben worden, berichtet der "Spiegel". Spitzenposten seien zudem verkauft, Waffen und Munition auf dem Schwarzmarkt verhökert worden.

Afghanistans Armee fiel "wie ein Kartenhaus" zusammen

Die afghanischen Truppen waren im ganzen Land verteilt. So wollte die Zentralregierung in Kabul Präsenz vor Ort zeigen. Doch der Nachschub stockte – es mangelte nicht nur an Munition, sondern offenbar auch an Verpflegung.

So hatte eine Polizeieinheit in Kandahar nach wochenlangen Kämpfen nicht mehr als täglich eine Schachtel Kartoffeln. "Die Pommes werden die Front nicht halten", zitiert die "New York Times" einen der Polizisten. Die Sicherheitskräfte seien nicht nur hungrig, sondern auch müde gewesen. Wenig später fiel die Grossstadt an die Taliban.

Ein weiterer Faktor waren Offiziere, die sich nach dem Abzug der Bundeswehr aus Angst vor den Taliban mit ihren Familien ins Ausland abgesetzt hätten. "Als die ersten Offiziere flohen, setzte ein Dominoeffekt ein", zitiert der "Spiegel" einen Bundeswehroffizier. Innerhalb weniger Tage seien erst einzelne Einheiten, dann die gesamte afghanische Armee zusammengefallen "wie ein Kartenhaus".

Lesen Sie hier: Afghanistan-News im Ticker: Zweite Bundeswehr-Maschine aus Kabul gelandet

Verwendete Quellen:

  • Der Spiegel: "Wie die afghanische Armee so schnell kollabieren konnte"
  • New York Times: "The Afghan Military Was Built Over 20 Years. How Did It Collapse So Quickly?"
  • SWP-Aktuell: "Afghanistan am Scheitelpunkt der Transitionsphase"
  • Tagesschau.de: "'Afghanistan ist für den Westen verloren'"
  • Neue Zürcher Zeitung: "Trotz Milliardenhilfen ist die vom Westen aufgebaute afghanische Armee in wenigen Tagen zusammengebrochen – wie war das möglich?"
  • Münchner Merkur: "'Wir haben die afghanische Armee blind ins Feld geschickt' - Politikwissenschaftler über den Taliban-Vormarsch"
  • Nachrichtenmeldungen der Deutschen Presse-Agentur und der AFP
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