• Es war eine kleine Odyssee, bis die erste Militärmaschine zu ihrer Evakuierungsmission in Kabul landen konnte.
  • Chaotische Zustände auf dem Flughafen verhinderten stundenlang den Beginn des wichtigen Einsatzes.
  • Unterdessen bricht US-Präsident Biden sein Schweigen und droht den neuen Regenten in Kabul.

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Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben Deutschland und andere westliche Staaten begonnen, in grosser Eile ihre Staatsbürger und gefährdete afghanische Ortskräfte auszufliegen. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte am Montag, die Bundeswehr wolle ihre Luftbrücke so lange wie möglich aufrechterhalten, "um so viele Menschen wie möglich herauszuholen". Am Flughafen der Hauptstadt Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Hunderte oder vielleicht auch Tausende verzweifelte und verängstigte Menschen versuchten, auf Flüge zu kommen, wie Videos in Online-Medien zeigten.

Für Entsetzen sorgten Aufnahmen, die zeigen sollen, wie Menschen aus grosser Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmasst, dass sie sich im Fahrwerk versteckt hatten oder sich festhielten. Diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig verifiziert werden. Ein Mann, der in der Nähe des von 2.500 US-amerikanischen sowie türkischen Soldaten gesicherten Flughafens lebt, schrieb der Deutschen Presse-Agentur von vier Abgestürzten, die in der Nachbarschaft aufgeschlagen seien. Auf einem anderen Video soll zu sehen sein, wie Dutzende Menschen neben einer rollenden US-Militärmaschine laufen. Einige klammern sich daran fest.

Das Pentagon bestätigte Zwischenfälle am Flughafen mit Bewaffneten. Dabei hätten US-Soldaten zwei Personen erschossen, die ersten Erkenntnissen nach aber nicht zu den Taliban gehörten, hiess es.

Biden: "Wir werden unsere Leute mit vernichtender Gewalt verteidigen"

US-Präsident Joe Biden drohte den Taliban für den Fall eines Angriffs auf US-Kräfte und ihre Evakuierungsmission. "Wir werden unsere Leute mit vernichtender Gewalt verteidigen, falls nötig", versicherte er am Montag im Weissen Haus.

Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen, darunter der Bundeswehr, in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte eingenommen - viele kampflos. Am Sonntag rückten sie auch in Kabul ein. Kämpfe gab es keine.

Der blitzartige Vormarsch hatte viele Beobachter, Experten und auch die US-Regierung überrascht. Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) sagte am Montag: "Es gibt auch nichts zu beschönigen: Wir alle - die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft - wir haben die Lage falsch eingeschätzt."

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schloss sich ausdrücklich an. "Da haben wir eine falsche Einschätzung gehabt. Und das ist nicht eine falsche deutsche Einschätzung, sondern die ist weit verbreitet", sagte sie am Abend im Kanzleramt. Zuvor hatte es massive Kritik an der Bundesregierung gegeben. Unionskanzlerkandidat Armin Laschet kündigte eine "schonungslose" Aufarbeitung dazu an. In den ARD-"Tagesthemen" sagte er: "Ich sage zu: Es wird alles aufgeklärt, wir müssen Konsequenzen ziehen."

UN-Generalsekretär António Guterres mahnte die militant-islamistischen Taliban zu "äusserster Zurückhaltung", um so Leben zu schützen. Humanitäre Hilfe müsse weiter möglich sein, und allen Menschen, die das Land verlassen wollten, müsse dies möglich sein, forderte er bei einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats. Die Weltgemeinschaft rief der UN-Chef auf, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen und Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen.

Laschet äusserte sich skeptisch über eine Aufnahme von Afghanen

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CDU) rechnet damit, dass 300.000 bis fünf Millionen weitere Afghanen die Flucht ergreifen. Das sagte er nach dpa-Informationen bei einer Unterrichtung der Bundestags-Fraktionschefs. Einen Zeitraum nannte er nicht.

Kanzlerkandidat Laschet äusserte sich skeptisch über eine Aufnahme von Afghanen in grosser Zahl. "Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann", sagte der CDU-Vorsitzende nach Beratungen von Präsidium und Bundesvorstand seiner Partei. "Die Konzentration muss darauf gerichtet sein, vor Ort, jetzt diesmal rechtzeitig - anders als 2015 - humanitäre Hilfe zu leisten." In dem Jahr waren Hunderttausende Migranten weitgehend unkontrolliert nach Deutschland eingereist. Merkel kündigte an, den afghanischen Nachbarstaaten schnell Hilfe anzubieten, um Fluchtbewegungen nach Europa unter Kontrolle zu halten.

Die Lage in Kabul selbst war am Montag angespannt, aber ruhig. Die Taliban besetzten überall in der Hauptstadt Polizeistationen und andere Behördengebäude, wie Bewohner der Deutschen Presse-Agentur berichteten.

Die Aufständischen wollen ein "Islamisches Emirat Afghanistan" errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen 2001. Damals setzten sie mit drakonischen Strafen ihre Vorstellungen eines islamischen Staats durch: Frauen und Mädchen wurden unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechte permanent verletzt.

Merkel sprach von "bitteren Stunden"

Merkel sprach angesichts der Entwicklung von "bitteren Stunden", gerade für die vielen Afghanen, die auf Fortschritt und Freiheit gebaut hätten - vor allem die Frauen. Insgesamt gehe es bei der Evakuierung um etwa 10 000 Menschen, da die Familienmitglieder mitgerechnet würden.

In der Nacht zum Montag waren nach dpa-Informationen 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug ausgeflogen worden, nach Doha im Golfemirat Katar. Am Morgen starteten dann die ersten drei Bundeswehrtransporter Richtung Kabul. Fallschirmjäger an Bord sollen die Evakuierung absichern. Allerdings stockte die Aktion im aserbaidschanischen Baku. Eine Maschine flog bis Kabul, konnte aber wegen der verzweifelten Massen auf dem Rollfeld nicht landen. Sie kreiste auf Landegelegenheit wartend, bis sie zum Nachtanken nach Usbekistan abdrehen musste und von einer anderen Maschine abgelöst wurde. Diese konnte dann am späten Abend landen.

Frauenrechtsorganisationen appellierten an die Bundesregierung, gerade Frauenrechtlerinnen und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen bei der Ausreise zu unterstützen. Die Terre-des-Femmes-Vizevorsitzende Inge Bell sagte, besonders Akteurinnen, die sich für die Rechte von Frauen eingesetzt hätten, schwebten nun in Todesgefahr.

Viele Afghanen zeigten in sozialen Medien offen ihre Wut über den geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani. Durch ihn seien Tausende Kinder nun vaterlos, er habe dem Land jegliche Sicherheit genommen und es dem Feind übergeben, schrieb die Sängerin Sedika Madadgar auf Facebook. Er sei das "schmutzigste Tier" in Afghanistans Geschichte.

Trump macht Biden Vorwürfe

US-Präsident Joe Biden sah sich nach dem schnellen Vormarsch der Taliban im Kreuzfeuer führender Republikaner. Der frühere US-Präsident Donald Trump warf seinem Nachfolger vor, sich den Taliban "ergeben" zu haben. Biden habe mit seiner Afghanistan-Politik «das Vertrauen in die Macht und den Einfluss Amerikas zerstört». Biden verteidigte seine Abzugsentscheidung aber vehement. Er stehe felsenfest dazu. Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn die US-Truppen noch etwas länger geblieben wären, argumentierte er.

Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte in einer Fernsehansprache davor, dass Afghanistan wieder zu einem Zufluchtsort des Terrorismus werden könnte. Er kündigte eine Initiative mit den europäischen Partnern dagegen an. "Die Destabilisierung Afghanistans droht ausserdem zu ungesteuerten Flüchtlingsströmen Richtung Europa zu führen", sagte er. Diese wolle Frankreich mit Deutschland und anderen EU-Partnern kanalisieren. Er habe bereits mit Merkel gesprochen.

Johnson kündigte nach einem Telefonat mit Macron an, in den kommenden Tagen auch im Kreis der G7-Staaten - einer Gruppe führender Industrienationen - in den Dialog über Afghanistan treten zu wollen.

Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300 000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60 000 schlechter ausgerüsteten Kämpfern gegenüber. Die Taliban profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie sich während ihrer Herrschaft in den 1990er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen verdient haben. Mit psychologischer Kriegsführung und dem Einsatz sozialer Medien brachten sie viele Sicherheitskräfte zur Aufgabe. Andernorts einigten sich lokale Politiker, Älteste oder Stammesführer über die Köpfe der Sicherheitskräfte hinweg mit den Taliban auf eine Kapitulation.

Die Taliban herrschten von 1996 bis 2001 in Afghanistan. Sie hatten dem Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, Unterschlupf im Land gewährt (dpa/fra)

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