- Knapp fünf Monate sind die Taliban in Afghanistan an der Macht.
- Die UN befürchtet einen Zusammenbruch der Banken, etwa 22 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht.
- "Die Taliban besitzen nicht die Expertise, um die wirtschaftlichen Herausforderungen bewältigen zu können", erklärt Richard Kaniewski von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Interview.
In ihrer ersten Pressekonferenz im April versuchten die islamistischen Taliban noch den Schein zu wahren. Doch nun werden die Vorschriften für das öffentliche Leben in Afghanistan stetig strikter.
Jüngst wurden sogar Schaufensterpuppen für unislamisch erklärt und sollen verschwinden. Der Afghanistan-Experte Richard Kaniewski von der Friedrich-Ebert-Stiftung erklärt die Situation im Land.
Die aktuelle Lage in Afghanistan ist verheerend
Unterschieden werden muss zwischen der politischen Lage und der wirtschaftlichen Situation im Land. "Vor der Machtübernahme der Taliban konnte die wirtschaftliche Lage in Afghanistan als stabil eingestuft werden", sagt Kaniewski. Zwar war man damals vom Ausland und internationalen Hilfsgeldern abhängig. Doch jetzt verstärkt sich die Armut zusehends. "Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass von insgesamt knapp 40 Millionen Afghanen 22 Millionen Menschen von akuter Nahrungsmittelknappheit bedroht sind. Es droht eine humanitäre Katastrophe."
Das sei zum einen eine Folge der internationalen Sanktionen, denn mit der Machtübernahme wurde die internationale Unterstützungsleistung eingefroren. "Zum anderen zeigt sich, dass die Taliban ökonomisch nicht die Expertise besitzen, um die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des Landes bewältigen zu können", erklärt Kaniewski.
Die politische Situation im Land gestaltet sich dagegen anders: Hier muss zwischen den Verlautbarungen der Taliban, die sie seit der Machtübernahme gemacht haben, und dem tatsächlichen politischen Agieren der De-Facto-Machthaber differenziert werden.
"Die neue Regierung besteht beispielsweise nur aus Taliban, bis auf wenige Ausnahmen sind alle Minister Pashtunen. Es sind also faktisch nur Angehörige einer Volksgruppe vertreten, Frauen fehlen ebenso wie andere ethnische Gruppen", erklärt der Afghanistan-Experte. "Weitere politische Gruppierungen oder Parteien wurden im Kabinett gar nicht beachtet." Da nur etwa 42 Prozent der Afghanen Pashtunen sind, ist eine repräsentative Vertretung der Bevölkerung somit nicht gegeben.
Zudem wurde das Ministerium für Frauen bei der Regierungsbildung aufgelöst, dafür wurde ein Ministerium für Tugendfragen neu installiert. "Letzteres gab es in einer ähnlichen Form schon unter der alten Talibanregierung", sagt Kaniewski. Derzeit werden im Land auch die Frauenrechte ausgehöhlt. "Neuerdings ist für Frauen auch das alleine Reisen über längere Distanzen untersagt."
Einen Lichtblick allerdings gibt es: "Die Datenlage ist schwierig, aber bisher blieben gross angelegte, zentral gesteuerte Racheaktionen gegen ehemalige Entscheidungsträger und Repräsentanten wohl aus", sagt Kaniewski. "Allerdings finden Einschüchterungsversuche von Journalisten, ehemaligen Ortskräften, Aktivisten sowie Gewalt gegen sie durchaus statt – teilweise auch mit tödlichem Ausgang."
Haben die Taliban Afghanistan bereits radikalisiert?
Die Frage, ob die Taliban das Land bereits radikalisiert haben, stellt sich nicht. Denn: "Die Taliban sind als Gruppierung schon als radikal einzustufen", sagt Kaniewski. Sie legen den Islam sehr eng und so strikt aus, wie sie es für richtig erachten. Der Prozess zu immer strikteren Religions- und Weltanschauungsauslegungen wird im Land sukzessive stärker. So wurde erst kürzlich die Wahlkommission aufgelöst. "Sie wird von den Taliban als überflüssig angesehen. Das ist ein klares Indiz dafür, dass es in absehbarer Zeit zu keinen Volksabstimmungen über die Regierung kommen wird", sagt der Afghanistan-Kenner.
"Ausserdem nehme ich eine schleichende Aushöhlung der gesellschaftlichen Standards wahr: Die Pressefreiheit wird immer stärker eingeschränkt, über bestimmte Dinge wie Proteste und Demonstrationen darf nicht mehr berichtet werden, das Fernsehprogramm wird reglementiert."
Dazu kommen viele kleine Einschränkungen wie neuerdings das Verbot von Musikhören im Auto und von ausländischen Währungen im Land. Teilweise wird hierfür formaler Druck, teils auch informaler ausgeübt. "Das widerspricht sehr oft auch dem, was die Taliban nach aussen hin kommunizieren."
Sanktionen gegen die Taliban sollen gelockert werden
Bereits vor Weihnachten hatte die Internationale Gemeinschaft darüber diskutiert, ob man gewisse Sanktionen gegen die Taliban aufheben oder wenigstens lockern sollte, um das Hungerleiden im Land zu verringern. "Aus humanitärer Sicht ist es zwingend notwendig, hier eine Regelung zu finden", sagt Kaniewski.
"Es besteht aber ein Zielkonflikt: Auf der einen Seite muss die Internationale Gemeinschaft dringend humanitäre Hilfe bieten, auf der anderen Seite darf sie ihre eigenen Ansprüche an die neuen Machthaber nicht unterminieren." Deswegen hatte zum Beispiel die Bundesregierung vor Weihnachten darüber diskutiert, bestimmte Gelder über die Vereinten Nationen an unabhängige Organisationen weiterzugeben. "So könnte man eine schnelle und unbürokratische Hilfe garantieren, die auch vor Ort ankommt."
Das zweite Problem: Gleichzeitig dürften aber dann Länder und Organisationen, die bereits jetzt direkt humanitäre Hilfe leisten oder noch leisten wollen, nicht "aus Versehen" gegen internationale Sanktionen verstossen. "Deswegen musste innerhalb der UN ein Konsens über die Sanktions-Ausnahmen für humanitäre Hilfe erreicht werden", erklärt Kaniewski. Ende des vergangenen Jahres beschloss der Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution.
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Werden tatsächlich aus der Not Mädchen verkauft?
Ob die Not tatsächlich so gross ist, dass sogar Töchter und Söhne verkauft werden, lässt sich schwer verifizieren. "Darüber sind viele Geschichten im Umlauf", bestätigt Kaniewski. "Aber in unserer schnelllebigen Zeit werden aus Einzelschicksalen schnell Verallgemeinerungen."
Ihm sind auch Geschichten über schnellere Zwangsverheiratungen zugetragen worden. "Das ist alles tragisch und bitter zu lesen. Aber ob es flächendeckend zutrifft, wissen wir nicht."
Ausgeflogen wird noch immer
Deutschland wollte eigentlich zehntausende Menschen aus Afghanistan aufnehmen. Doch bisher wurden nur 5.925 Visa für Ortskräfte und besonders gefährdete Menschen ausgestellt, teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes Ende des vergangenen Jahres mit.
Allerdings gibt es weiterhin Bemühungen, ehemalige Ortskräfte nach Deutschland und in andere Länder auszufliegen. "Es läuft nicht mehr so überstürzt, wie bei der Machtübernahme", bestätigt Kaniewski. "Es ist deutlich bürokratischer geworden." Die Taliban hätten keinerlei Interesse daran, dass zu viele Leute das Land verlassen.
Aus Afghanistan zu fliehen ist schwer
Im Moment jedenfalls gibt es ausser dem Flugweg keine andere wirklich gesicherte Möglichkeit, das Land zu verlassen. "Es ist schwierig zu Fuss auszureisen. Viele Nachbarländer haben die Grenzen faktisch geschlossen, die Beantragung der Visa ist problematisch", erklärt Kaniewski.
Und ohne Visum werden die Afghanen an den Übergängen abgewiesen. Teilweise geschehe dies aus politischen Gründen, aber auch aus klassischen bürokratischen Gründen.
Verwendete Quellen:
- Tagesschau.de: Mehr als 5900 deutsche Visa für Afghanen
- unric.org: Vereinte Nationen - Sicherheitsrat erleichtert Hilfe für Afghanistan
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