- Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 erfuhr Afghanistan eine Welle der Aufmerksamkeit. Dann kam der Ukraine-Krieg und mit ihm rückte das Land in den Hintergrund.
- Wie steht es heute um das Land? Afghanistan-Expertin Christina Ihle berichtet über die Lage vor Ort – insbesondere zur Situation von Mädchen und Frauen.
- Mit im Gepäck hat sie einen dringenden Appell.
Als die Taliban in Afghanistan Mitte 2021 nach dem abrupten Ende des 20-jährigen Nato-Einsatzes die Macht übernahmen, war die politische Zukunft des Landes ungewiss. Im Fokus stand dabei vor allem eine Frage: Was würde die Vorherrschaft der Taliban für die afghanische Zivilgesellschaft, Frauen- und Menschenrechte bedeuten?
Über ein Jahr später gibt es Antworten. Die Terrorgruppe hat Regeln aufgestellt und durchgesetzt, die Frauen und Mädchen massiv in ihren Grundrechten beschneiden und die Meinungsfreiheit unterdrücken.
Inzwischen 29 Dekrete, die Frauen systematisch einschränken
Das ist ein Ergebnis, zu dem nicht zuletzt auch die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" in ihrem Bericht zur Menschenrechtslage in 100 Ländern kommt. Die umfassende Missachtung von Menschenrechten durch die Taliban habe zur weltweiten Isolation des Landes beigetragen und die wirtschaftliche sowie humanitäre Krise vor Ort weiter verschärft.
Christina Ihle, Geschäftsführerin des "Afghanischen Frauenvereins" in Hamburg, kann das bestätigen. Ihre Organisation ist eine der wenigen, die nach der Machtübernahme vor Ort geblieben ist. Durch Kontakt auf täglicher Basis sind Ihle und ihr Team über die Herausforderungen in Afghanistan bestens informiert. "Inzwischen sind es 29 Erlasse, die die Rechte insbesondere von Frauen und Mädchen vehement und in vielen Bereichen einschränken", sagt Ihle.
Taliban haben ihr Versprechen gebrochen
Ihr Versprechen, weiterführende Schulen für Mädchen wieder zu öffnen, hatten die Taliban im März vergangenen Jahres endgültig gebrochen. Die meisten Schulen mussten nach der Machtübernahme schliessen.
"Am 24. Dezember 2022 gab es den letzten, sehr einschneidenden Erlass", sagt Ihle. Während die Taliban erst wenige Tage davor mit sofortiger Wirkung Studentinnen von privaten und öffentlichen Universitäten ausgeschlossen hatten, schränkten sie die Rechte von Frauen mit diesem Erlass noch weiter ein: Auch für Hilfsorganisationen im Land dürfen Frauen jetzt nicht mehr arbeiten. Einige von ihnen hätten sich nicht an die Auslegung der islamischen Kleiderordnung für Frauen gehalten, begründete ein Sprecher die Entscheidung.
Nicht arbeiten, nicht studieren, nicht lernen
"Zwischenzeitlich war der Zugang zu Universitäten im letzten Jahr wieder möglich, es geht immer auf und ab", beobachtet Ihle. Auch gab es bisher viele regionale Freiheiten. "In acht Provinzen hatten die Ältestenräte und die lokalen Führenden 2022 erreicht, dass Mädchen bis zur Klasse 12 wieder zur Schule gehen können", sagt die Expertin. Das sei mit dem Dezember-Erlass nun gestoppt worden.
"Mädchen ab der 7. Klasse dürfen nicht mehr zur Schule gehen, Frauen dürfen nicht mehr an die Universitäten gehen und auch nicht unterrichten", sagt sie. Die Regelungen würden streng kontrolliert, auch wenn die Provinzen unterschiedlich damit umgehen würden. Mancherorts lösen die Taliban Proteste von Frauen gewaltsam auf und nehmen Demonstrierende fest, so Medienberichte. Über das ganze vergangene Jahr hinweg wurden ausserdem immer wieder Menschen verhaftet, die Kritik an den Taliban in sozialen Medien geäussert hatten.
Trotz des repressiven Vorgehens: "Teilweise setzen sich Provinzen sehr stark dafür ein, dass die Regeln gelockert werden oder es Sondergenehmigungen für ihre Schulen gibt", so Ihle. Aktuell sind in Afghanistan noch Winterferien, das neue Schuljahr startet Ende März. "Das wird noch einmal ein wichtiger Zeitpunkt. Die De-facto-Regierung der Taliban hat angekündigt, bis dahin ein Konzept zu haben, wie es konkret für Mädchen und Frauen weitergehen soll", so Ihle.
Ihre Organisation betreibt in Afghanistan fünf Schulen mit über 4.500 Schülerinnen und Schülern. "Seit Anfang Januar haben alle Schulen wieder geöffnet und führen dort freiwillige Winterferienkurse für Mädchen und Jungen durch", berichtet sie. Das hätte man erst getan, nachdem die Behörden für alle Kolleginnen eine Genehmigung ausgestellt hatten, dass sie als Lehrerinnen unbehelligt und gefahrlos arbeiten können.
Fatale Konsequenzen für Afghanistans Frauen
"Wir haben parallel sieben Mutter-Kind-Kliniken wieder in Betrieb genommen, nachdem wir von den Dorfältesten inständig darum gebeten wurden", sagt Ihle weiter. Auch weibliches Personal sei dort tätig – das Arbeitsverbot der Taliban sehe Ausnahmen im Gesundheits- und Bildungsbereich vor.
"Wir setzen unsere Projekte dann fort, wenn Frauen dort für Frauen und Mädchen gleichberechtigt arbeiten dürfen", erklärt Ihle. Zwei Projekte müssen vorerst noch pausieren – zwei Lehrschneidereien für Mädchen und Frauen ohne Schulabschluss. "Hier haben wir noch keine Genehmigung erwirken können", berichtet die Expertin.
Das Pausieren zahlreicher Hilfsprojekte auch anderer Organisationen im Land habe fatale Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Besonders frauengeführte Haushalte, bei denen ein Ernährer fehle, hätten durch die Einschränkungen der Taliban kaum eine Möglichkeit, ein Einkommen zu generieren und seien dringend auf Unterstützung angewiesen.
Massive Wirtschaftskrise hält an
Die Lage ist für sie daher besonders dramatisch, denn Afghanistan wird weiterhin von einer massiven Wirtschaftskrise gebeutelt. Sie verschärfte sich durch die greifenden internationalen Sanktionen, das drastische Kürzen der Geberhilfen, das Zusammenbrechen des Bankensystems und einer dadurch einsetzenden Inflation.
Lebensmittelpreise etwa hätten sich mehr als verdreifacht, über 97 Prozent aller Familien gaben in einer Studie des Welternährungsprogramms an, ihre Kinder inzwischen nicht mehr ausreichend ernähren zu können.
Sanktionen belasten Afghanistan enorm
"Vor der Machtübernahme durch die Taliban waren 70 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes international finanziert", erklärt Ihle. Die internationalen Hilfen seien für die wesentlichen Versorgungsstrukturen der Bevölkerung genutzt worden – von Gesundheits- und Schulsystem bis hin zur Müllabfuhr.
"Nach der Machtübernahme und dem Ausbleiben der Gelder sind diese Strukturen weitgehend kollabiert. Im ländlichen Raum etwa ist die Gesundheitsversorgung fast nicht mehr existent", sagt Ihle. Allein 2.500 kleine Kliniken seien durch internationale Akteure finanziert gewesen, viele der Kliniken seien nun geschlossen.
Die ländliche Bevölkerung habe kaum mehr Zugang zu medizinischer Hilfe. Über das Rote Kreuz würden noch Kliniken in grossen Städten aufrechterhalten, viele Familien könnten sich den Transport dorthin aber gar nicht leisten.
Dramatische Ernährungssituation und Verzweiflung
"Auch die Unterernährung bei Kleinkindern ist erschreckend weit verbreitet, die humanitäre Not der Familien enorm. Die Sanktionen treffen eine Zivilbevölkerung, die niemals eine Chance hatte, die politischen Entwicklungen im eigenen Land mitzugestalten oder zu beeinflussen", sagt Ihle.
Akuter Hunger betrifft über die Hälfte der Bevölkerung. Auf dem Land sei das Problem besonders schlimm. "Afghanistan hat zusätzlich zu allen politischen Entwicklungen im letzten Jahr ein drittes Jahr Dürre, ein grosses Erdbeben und verheerende Überschwemmungen erlebt. Die Lebensgrundlagen von Kleinbauern wurden vielerorts zerstört, es gibt keine Reserven, die der Bevölkerung jetzt helfen würden, den wirtschaftlichen Kollaps und den besonders harten Winter aufzufangen", sagt Ihle.
Vor diesen Hintergründen herrsche enorme Verzweiflung, insbesondere die Perspektivlosigkeit für Mädchen und Frauen träfe die Bevölkerung hart. "Dort, wo noch Kraft ist, sieht man immer wieder einen unglaublich mutigen Widerstand. Studentinnen zum Beispiel, die ganz alleine mit grossen Plakaten vor Universitäten stehen und ihre Öffnung für Frauen fordern ", sagt Ihle. Das sei sehr gefährlich und sehr mutig.
"In einem Land, wo die grösste Sorge ist, wie man die Kinder nachts ruhig bekommt, weil alle hungern, da ist kaum mehr Kraft für Widerstand", beobachtet sie. Auch bei internationalen Akteuren und Entscheidenden beobachtet sie gewisse Ermüdungserscheinungen und Resignation.
Die Welt darf Afghanistan nicht vergessen
"Nach der Machtübernahme der Taliban war die Berichterstattung zu Afghanistan sehr intensiv. Mit dem Ukraine-Konflikt sind die Aufmerksamkeit und die Unterstützungsfreude für das Land sehr stark zurückgegangen", sagt Ihle. Bei jedem Erlass gegen Menschen- und Frauenrechte sei der Aufschrei inzwischen geringer.
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Die Hilfsorganisation fordert deshalb die internationale Gemeinschaft inständig auf, den Dialog mit der De-facto-Regierung nicht abbrechen zu lassen – so schwierig er auch sein mag. "Das Schlimmste, was für die Bevölkerung Afghanistans und insbesondere die Mädchen und Frauen dort jetzt passieren könnte, wäre eine weitere Isolation, wie in der ersten Talibanzeit. Und, dass die Welt Afghanistan vergisst."
Denn das politische Gleichgewicht stehe mit dem Brückenland Afghanistan zwischen Ost und West auf dem Spiel: "Zieht sich der Westen gänzlich zurück, gibt es international andere Akteure, die diese Lücke auf durchaus gefährliche Weise füllen könnten", so die Expertin.
Die Bundesregierung hat diesen Ruf offenbar erhört. Deutschland wird die Finanzierung von Entwicklungsprojekten in Afghanistan wieder aufnehmen. Das geht aus einem internen Schreiben des Entwicklungshilfeministeriums hervor, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Ein Grossteil aller von Deutschland finanzierten Projekte war Ende Dezember ausgesetzt worden, nachdem die Taliban ein Arbeitsverbot für Frauen in humanitären Organisationen verhängt hatten.
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