Auf keinem anderen Kontinent herrschen so viele Diktatoren wie in Afrika. Nirgends sonst gibt es so viele Staaten, die eigentlich keine sind. Und Europa ist an dieser Misere nicht ganz unschuldig.
Wenn nun vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag der Prozess gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta beginnt, steht mit ihm einmal mehr ein ganzer Kontinent im Fokus der Weltöffentlichkeit. Kenyatta wird vorgeworfen, für Gewaltausbrüche in seinem Land nach der Präsidentenwahl im Jahr 2007 verantwortlich zu sein. Mehr als 1.000 Menschen starben dabei, hunderttausende wurden vertrieben.
Kenyatta soll damals seine Anhänger auf die seines damaligen politischen Gegners und heutigen Mitstreiters William Ruto gehetzt haben. Unabhängig davon, dass die Ankläger in diesem Prozess in den vergangenen Monaten einige Rückschläge einstecken mussten - unter anderem hatte einer der Belastungszeugen gegen Kenyatta zugegeben, falsche Aussagen gemacht zu haben -, stehen mit diesem Prozess Fragen wie diese im Raum: Warum gibt es auf keinem anderen Kontinent der Welt noch immer so viele offen diktatorische Regimes wie dort? Warum toben in Afrika scheinbar unablässig Bürgerkriege? Warum ist die Staatsgewalt nirgends sonst so schwach wie in den Staaten des schwarzen Kontinents?
Gescheiterte Staaten
Dass die meisten Staaten Afrikas weit entfernt davon sind, zum Beispiel europäischen Standards in Sachen Demokratie und Menschenrechten zu genügen, das ist nicht nur eine Stammtischparole. Der "failed state index" der US-amerikanischen Nicht-Regierungsorganisation "Fund for Peace" weist Staaten aus, die zwar auf politischen Karten in Schulatlanten zu finden sind, deren Innenleben aber tatsächlich kaum etwas mit Staatlichkeit im westlichen Sinne zu tun hat. In der Regel liegt in solchen failed states – auf Deutsch etwa: gescheiterte Staaten – das Gewaltmonopol nicht bei einer demokratisch gewählten Regierung. Stattdessen regieren Milizen oder Banden weite Landstriche. Sie erheben oft eigenmächtig Steuern, entscheiden, was Recht und was Unrecht ist. 2013 waren unter den Top Ten dieser failed states sieben Länder Afrikas: Somalia, Kongo, Sudan, Süd-Sudan, Tschad, Zentralafrika und Simbabwe.
Den Grund für diese Situation hat George Ayittey bereits 2009 treffend auf den Punkt gebracht. Ayittey ist ein afrikanischer Wirtschaftswissenschaftler, der in den USA und Kanada ausgebildet wurde, heute in den USA lebt und Präsident der Free Africa Foundation ist, die ihren Sitz in Washington D.C. hat. In einem kurzen Text für das Fachmagazin "Foreign Policy" schrieb Ayittey damals angesichts des "failed state index", es seien auf seinem Heimatkontinent nahezu immer die gleichen Mechanismen am Werk, die dafür sorgten, dass sich irgendwelche Diktatoren der dortigen Staatsspitzen bemächtigten.
Rebellen jagen Despoten aus dem Amt
Zuerst, schrieb Ayittey, ergreife ein angeblich gebildeter Militär oder Zivilist die Macht in einem der Länder. Dann besetze er staatliche Schlüsselpositionen – also Posten in Justiz, Polizei, Armee, Medien, Wirtschaft – mit Vertrauensleuten aus seinem eigenen Umfeld, häufig aus seiner eigenen Volksgruppe. Dadurch fühlten sich Angehörige anderer Volksgruppen ausgegrenzt, in den Hintergrund gedrängt, politisch verfolgt – der Beginn eines Aufstandes gegen den vermeintlichen oder echten Despoten. Nur, schrieb Ayittey, seien diese Rebellen oftmals noch schlimmer als die Despoten, die sie schliesslich aus dem Amt jagen. "Dann beginnt der Kreislauf von vorne."
Als Ausnahmen von diesem Ritual nannte Ayittey unter anderem Südafrika. Dieser Staat wie auch Angola und Mozambique gelten auch unter anderen Afrika-Experten als die wenigen Beispiele für afrikanische Staaten, denen eine innere Ruhe vergönnt ist. Durch den arabischen Frühling, der viele Diktatoren in Nordafrika gestürzt hat, sind allerdings viele ehemals relativ stabile Staaten wie Ägypten oder Libyen inzwischen tief im Chaos versunken. Auch dort kämpfen nun rivalisierende Volksgruppen gegeneinander, die sich einer wirklichen Staatsgewalt nicht zu unterwerfen denken.
Was Ayittey in seiner Einschätzung für Foreign Policy nur kurz andeutet, aber unter Historikern inzwischen als weithin anerkannt gilt: Dass es heute überhaupt zum Kampf verschiedener Volkgruppen innerhalb afrikanischer Staaten kommen kann, daran ist Europa nicht unschuldig. Denn im 19. und 20. Jahrhundert waren es die europäischen Kolonialmächte – unter anderem: Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Belgien –, die grosse Territorien in Afrika unter sich aufteilten – und dabei Grenzen am Reissbrett, mit dem Lineal zogen. Der Grenzverlauf vieler Staaten Afrikas rührt aus dieser Zeit.
Künstliche Grenzen der Kolonialmächte
Die Folge: Wo die Grenzen zwischen Volksgruppen natürlicherweise entlang von Gebirgen oder Flüssen verliefen, durchschnitten die Europäer in ihrem imperialistischen Wahn diese Trennungen. Dafür pressten sie Menschen unterschiedlicher Herkunft in künstlichen Gebilden – "Kolonien" – zusammen, die nach der De-Kolonisierungswelle in den 1960er Jahren zwar zu unabhängigen Staaten wurden, aber von innen durch die vielen unterschiedlichen Interessen konkurrierender Volksgruppen geradezu zerrissen wurden. Damit bieten diese Gebilde einen idealen Nährboden für grosse Diktatoren und kleine Milizenführer, die gerne grosse Diktatoren werden wollen.
Obwohl die Internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten versucht, den afrikanischen Kreislauf, den Ayittey beschrieb, zu durchbrechen, sind ihre Erfolge dabei marginal. Nach dem Genozid in Ruanda 1994 – damals töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa drei Viertel der in dem Land lebenden Tutsi-Minderheit, bis zu eine Million Menschen starben – versuchen besonders die ehemaligen europäischen Kolonialmächte zwar verstärkt, Bürgerkriege auf dem Kontinent zu verhindern. Die Intervention Frankreichs in Zentralafrika vom Dezember 2013 mit damals etwa 1.200 Soldaten ist ein Beispiel dafür. Doch dauerhaft lösen können solche kurz- oder mittelfristigen Einsätze die grundsätzlichen Probleme in Afrika nicht. Uhuru Kenyatta wird ganz sicher nicht der letzte Staatsführer Afrikas sein, dem schlimme Verbrechen zur Last gelegt werden.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.