• Anhänger des abgewählten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben mehrere Regierungsgebäude gestürmt.
  • Die Bilder der Ausschreitungen erinnern an den Kapitol-Sturm vom 6. Januar 2021 in Washington.
  • Über 200 Personen wurden festgenommen, es gab auch mehrere Verletzte.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Noethen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Bürgerkriegsähnliche Bilder am Sonntagnachmittag in Brasiliens Hauptstadt Brasilia: Anhänger des abgewählten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro haben mehrere Regierungsgebäude gestürmt und verwüstet.

Mehr aktuelle News

Die Bilder, die sich rasch durch die sozialen Netzwerke verbreiteten, zeigten, wie die Randalierer – vielfach uniformiert mit den gelben Trikots der Fussball-Nationalmannschaft und einer Brasilien-Flagge – in das Regierungsviertel strömten und zunächst in das Gebäude des Kongresses, kurz darauf in das Gebäude des Obersten Gerichtshofs (STF) und den Präsidentenpalast (Palacio de Planalto) eindrangen und im Innern wüst randalierten.

Mehr als 200 Festnahmen und auch Verletzte

Erst Stunden nach Beginn der Ausschreitungen brachten Sicherheitskräfte die Situation weitgehend unter Kontrolle. Justizminister Flavio Dino berichtete, dass die drei erstürmten Gebäude vollständig geräumt worden seien.

Mehr als 200 Menschen wurden Dino zufolge festgenommen. Nach Medienberichten gab es auch mehrere Verletze, darunter laut einer Journalistengewerkschaft auch fünf Journalisten. Unter ihnen war ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP, der geschlagen wurde und dem seine gesamte Ausrüstung gestohlen wurde.

Scheiben wurden zerschlagen, Vitrinen zerstört, Bilder von den Wänden gerissen und Mobiliar und das gesamte Interieur unbrauchbar gemacht. Laut Medienberichten drangen die Randalierer bis zu Büros der Bundesrichter vor, verwüsteten und vernichteten Dokumente.

Die Bürotür des bei den Bolsonaristas besonders verhassten Bundesrichters Alexandre de Morães rissen sie heraus und präsentierten sie als Trophäe. Morães war verantwortlich für die Abwicklung der Präsidentschaftswahlen im Oktober, deren Ergebnis grosse Teile der Anhänger Bolsonaros nicht anerkennen wollten. Im Präsidentenpalast und dem Kongress wüteten sie ähnlich.

Erinnerungen an den Sturm aufs US-Kapitol

Bei dem Angriff, der an den Kapitol-Sturm in der US-Hauptstadt Washington am 6. Januar 2021 erinnerte, leisteten die Sicherheitskräfte, anders als in den USA seinerzeit, keinerlei Widerstand. Die Policia Militar, die für die Sicherheit im Bundesstaat Distrito Federal zuständig ist, hielt sich auffällig zurück.

Der Bundesabgeordnete Guilherme Boulos (PSOL) teilte ein Video, das Polizisten zeigte, die mit Demonstranten scherzten und Selfies schossen. So schwerwiegend der Kapitol-Sturm seinerzeit war, dieser Angriff war noch gravierender, da er die wichtigsten Institutionen der Legislative, Exekutive und Judikative praktisch zeitgleich und ohne grosse Gegenwehr erfasste.

Auch der zuständige Gouverneur für den Distrito Federal, Ibaneis Rocha, liess sich lange Zeit nicht blicken. Per Twitter versuchte er später die Wogen der glätten. Gegen 17:00 Uhr Ortszeit gab Rocha die Entlassung des für die öffentliche Sicherheit zuständigen Ministers Anderson Torres bekannt.

Torres erfuhr von seiner Entlassung in seinem Urlaubsdomizil in Orlando/Florida. Dem Ort, wo sich auch Ex-Präsident Jair Bolsonaro zurzeit aufhält. Torres war in den letzten Jahren der Amtszeit Bolsonaro dessen Minister für Innere Sicherheit und Justiz gewesen.

Jair Bolsonaro äusserste sich erst spät zu den Vorkommnissen. Per Twitter hat er den Angriff seiner radikalen Anhänger verurteilt. "Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter", schrieb der rechte Ex-Staatschef auf dem Nachrichtenkurzdienst. "Während meiner gesamten Amtszeit habe ich mich stets an die Verfassung gehalten und die Gesetze, die Demokratie, die Transparenz und unsere heilige Freiheit geachtet und verteidigt."

Entlassung von Gouverneur Rocha gefordert

Noch am Abend wurden mehrere Stimmen laut, die auch die Entlassung und Bestrafung des Gouverneurs Rocha forderten, der mit seiner Passivität dazu beigetragen haben soll, dass die Situation derart eskalieren konnte. Immerhin sollen in sozialen Netzwerken schon seit einigen Tagen Ankündigungen für den Sturm kursiert sein. Er wird sich fragen lassen müssen, weshalb er diese Ankündigungen nicht ernster genommen und die Zahl der Sicherheitskräfte erhöht hatte.

Interessant jedoch, dass am Sonntagmorgen noch Präsidentensohn und Senator Eduardo Bolsonaro ein Video von Stephen Bannon gepostet haben soll. In diesem Video, das an die Anhänger Bolsonaros gerichtet war, wiederholte Bannon nochmals das Narrativ von der gestohlenen Wahl und rief die Anhänger Bolsonaros zu Protesten auf.

Bannon war der Chefwahlkämpfer von EX-US-Präsident Donald Trump. Seit seiner Entlassung versucht Bannon, ein weltweites rechtsradikales Netzwerk mit dem Namen "The Movement" zu etablieren. Eduardo Bolsonaro bezeichnete er dafür mehrfach als seinen Statthalter in Südamerika.

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva stand während der Ausschreitungen im Austausch mit Justizminister Flavio Dino und Verteidigungsminister José Múcio Monteiro. Um kurz vor 18:00 Uhr Ortszeit trat Lula in Sao Paulo vor die Presse und verhängte bis zum 31. Januar eine "Intervenção Federal": Damit wird der Bundesstaat Distrito Federal und die Hauptstadt bis Monatsende unter das Kommando der Bundesregierung gestellt.

Lula berief sich dabei auf den Artikel 84 der brasilianischen Verfassung. Es ist die zweite Intervention der jüngeren Vergangenheit. 2018 hatte allerdings der Bundesstaat Rio de Janeiro darum gebeten, um der zugenommenen Gewalt Herr werden zu können.

"Alle, die das gemacht haben, werden ermittelt und bestraft", kündigte Lula an. Auch die Passivität der Policia Militar kritisierte er. "Jeder weiss, dass der Ex-Präsident dies stimuliert hat", schoss Lula scharf in Richtung Bolsonaro. "Es ist seine Verantwortung."

Bolsonaro verbat sich diese Anschuldigungen. "Ich weise die Vorwürfe zurück, die der derzeitige Chef der brasilianischen Regierung ohne Beweise erhebt", schrieb er auf Twitter.

Olaf Scholz: "Angriff auf die Demokratie, der nicht zu tolerieren ist"

Die Vorkommnisse wurden national und international scharf verurteilt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb auf Twitter, "die gewalttätigen Attacken auf die demokratischen Institutionen" seien "ein Angriff auf die Demokratie, der nicht zu tolerieren ist". Man stehe eng an der Seite des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und der Bevölkerung Brasiliens. US-Präsident Joe Biden nannte den Angriff bei einem Besuch im US-Bundesstaat Texas "ungeheuerlich".

Chiles Präsident Gabriel Boric war der erste, der die Attacke verurteilte. Er sprach von einem "feigen und gemeinen Angriff auf die Demokratie". Auch Evo Morales (Bolivien), Argentiniens Präsident Alberto Fernandez und US-Botschafter Douglas Koneff verurteilten den Angriff scharf.

Lesen Sie auch:

Politiker sprechen von Terrorismus

Brasilianische Politiker sprachen von einem Akt des "Terrorismus". "Die kriminelle und radikale Haltung der Putschisten, wenn sie sich den Machthabern entgegenstellen, in den Nationalkongress einmarschieren und die STF und den Planalto zerstören, erfordert eine exemplarische Bestrafung. Hinterhältige politische Führer sowie die Geldgeber dieser Aktion müssen streng zur Rechenschaft gezogen werden", twitterte die neue Ministerin für Planung, Simone Tebet.

Arthur Lira, Parlamentssprecher und eigentlich ein politischer Verbündeter Bolsonaros, verbreitete über das selbe Medium: "Die Verantwortlichen für diesen Angriff auf die brasilianische Demokratie und ihre Hauptsymbole müssen identifiziert und gemäss dem Gesetz bestraft werden."

Beobachter warnten immer wieder vor der Gefahr einer Gewalteskalation

Der Zeitpunkt der Ausschreitungen kam durchaus überraschend. Seit dem knappen Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl vom 30. Oktober 2022 hatten Beobachter immer wieder vor der Gefahr einer Gewalteskalation gewarnt. Zwar war es landesweit auch zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen gekommen, jedoch hatte es bis zuletzt nicht danach ausgesehen, als hätte der Funken überspringen und eine Massenbewegung auslösen können.

Nachdem der Ex-Präsident am 30. Dezember das Land in Richtung USA verlassen hatte und Lula am 1. Januar vereinigt worden war, schien die akute Gefahr gewaltsamer Demonstrationen an sich gebannt. Bis in den späten Abend blieb die Lage in Brasilia angespannt.

Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit der Journalism Trust Initiative statt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.