Das Schweizer Stimmvolk hat am Sonntag das grosse Reformprojekt Altersvorsorge 2020 relativ deutlich bachab geschickt. Für die Schweizer Presse ist klar, dass jetzt eine Diskussion über die Erhöhung des Rentenalters folgt.
"Das Volk hat den Reset-Knopf gedrückt", schreibt die Neue Zürcher Zeitung. "Die Rentenreform 2020, das wichtigste Projekt der Legislatur, ist an der Urne überraschend deutlich durchgefallen und an den Absender zurückgeschickt worden."
Der Plan, die erste und die zweite Säule (Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHV, und berufliche Vorsorge, BVG) in einem grossen Wurf gemeinsam zu stabilisieren, habe sich "als untauglich erwiesen": "Die Stimmberechtigten haben gemerkt, dass die Reform die AHV nicht nachhaltig stabilisiert hätte, dass sie die Finanzierungsprobleme des wichtigsten Vorsorgewerks hinausgeschoben und gar noch verschärft hätte."
Rentenalter-Frage im Zentrum
Im Zentrum müsse nun eine generelle Erhöhung des Rentenalters stehen. "Die Stimmberechtigten haben mit ihrem Nein zur Rentenreform nämlich deutlich gemacht, dass sie eine wirklich nachhaltige Sanierung der Vorsorgewerke wollen. Sie sind durchaus in der Lage, der Notwendigkeit eines höheren Rentenalters ins Auge zu sehen. Es gibt keinen Grund, diese Debatte länger aufzuschieben."
Auch die Südostschweiz fordert, jetzt müsse eine Alternative her: "Denn die Zeit drängt. Die AHV gerät mit jedem Jahr mehr in Schieflage. Und mit jedem Jahr wird die Sanierung teurer. Nun müssen die Gegner dieser 'Scheinreform', wie sie es selber nannten, liefern. Nun muss allen voran die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) zeigen, dass sie eine mehrheitsfähige Lösung finden kann."
Dabei gehe es darum, den Leuten nichts vorzumachen. "Eine Reform der Alterswerke wird wehtun. Es ist nun mal eine Tatsache, dass wir alle älter werden. Also wird die Erhöhung des Rentenalters ein Thema bleiben müssen." Bei einer künftigen Reform müsse es darum gehen, dass "alle möglichst wenig verlieren – damit am Schluss unsere einzigartige Altersversorgung die grosse Gewinnerin ist."
Der Walliser Le Nouvelliste spricht bildlich von einem "Basar, in dem jeder, wenn er gut sucht, etwas Tolles finden wird". "Jeder dachte nur an sich, was er mehr für sich herausholen konnte und weniger für den Nachbarn. Und beim Vergleichen fiel allen auf, wie ungerecht diese Reform war."
Eine Sanierungsmassnahme nach der anderen?
Nun werde dem Stimmvolk eine Sanierungsmassnahme nach der anderen vorgelegt werden müssen. "Jede von ihnen wird unvermeidlich schmerzhaft sein."
Für die rechtskonservative Basler Zeitung ist die gestrige Schlappe "eine Niederlage, die Alain Berset (Sozialdemokratische Partei, SP) verdient hat. Nie hat ein Bundesrat eine Vorlage derart offensiv, wenn nicht aufdringlich vertreten. Dieser Mann hat sich überschätzt."
Die Regierung unter Berset habe Volk und Ständen "eine Vorlage präsentiert, die dem Souverän nicht passte. Nach solchen Tagen, wo ein Volk seiner Regierung den Tarif erklärt, wie das nur ein einziges Volk auf diesem Planeten kann, nach solchen Tagen ist man zuversichtlich. Es kommt gut".
"Nur Mut, Herr Berset", titelt die Westschweizer Le Temps. "Es wird nun an ihm liegen, Verantwortung zu übernehmen und die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, und nicht an seien rechten Opponenten, die mit Plan B, C, D oder E jonglieren wie ein Seelöwe mit Kugeln, aber ohne Applaus." FDP und SVP seien zwar die grossen Tagessieger, "aber sie sind nicht bei weitem die neuen Meister des Spiels und die Könige der sozialen Ansätze".
Freisinnige "in der Pflicht"
Das Resultat der Abstimmung vom Sonntag sei "eine empfindliche Niederlage für Innenminister Alain Berset. Er hat alles auf eine Karte gesetzt und mit List und Taktik diese Vorlage durchs Parlament gepeitscht", schreibt der Blick.
Auch für die AHV sehe es jetzt düster aus. "Die Reform hätte den AHV-Fonds für mindestens zehn Jahre finanziell stabilisiert. Nun aber gerät er schneller ins Minus."
Am Zug sei nun FDP-Präsidentin Petra Gössi. "Mit der neuen Mehrheit im Bundesrat kann sie eine reine Kürzungsvorlage durchboxen. Doch die Stunde der Wahrheit kommt erst danach. Sie muss beweisen, dass das Volk beim Plan B mitzieht."
Denn nur ein Ja zu ihrem Alternativprojekt mache die Gewinner der Abstimmung vom Sonntag zu echten Siegern. "Sonst tragen sie die Verantwortung dafür, dass unsere Altersvorsorge in eine noch viel grössere Schieflage gerät."
Auch Der Bund und der Tages-Anzeiger sehen nun die FDP in der Pflicht, wie ihr Kommentator titelt. "Mit dem Nein wurde eine ausgewogene Reform versenkt, der in einigen Jahren vielleicht auch die jetzigen Sieger nachtrauern werden." Sozialminister Berset habe "auf das grosse Gesamtwerk" gesetzt, weil Einzelschritte wie Frauenrentenalter 65 und die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge im Volk bereits gescheitert seien.
"Im Parlament wird nun eine bürgerliche Allianz den Ton angeben. Berset ist zwar angeschlagen, aber er ist pragmatisch genug, um den Neustart begleiten zu können. Die Linke wird sich jedoch verweigern, wenn das Frauenrentenalter 65 nicht mit höheren AHV-Renten abgegolten wird."
In der Verantwortung stehe nun vor allem die FDP, Anführerin der Gegenkampagne im Abstimmungskampf. "Es wird dann an FDP und SVP sein, ihrer Basis zu erklären, warum sie einer Vorlage zustimmen soll, die kaum besser ist als die eben abgelehnte. Manche Rechte und Wirtschaftsvertreter hoffen indes, das Volk sei unter dem Eindruck einer Finanzierungskrise bei der AHV zu Rentenalter 67 bereit. Dieses Kalkül ist zynisch und gefährlich. Denn eine generelle Rentenalter-Erhöhung ist auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig."
Müssen Schweizer künftig länger arbeiten?
Die Aargauer Zeitung glaubt ebenfalls nicht an die Mehrheitsfähigkeit einer generellen Erhöhung des Rentenalters, "das weiss jeder, der realpolitisch bei Trost ist". Eine ehrliche Alternative müsse deshalb den Menschen erklären, "dass wir künftig länger arbeiten werden". Deshalb müsse gelten: "Arbeitnehmer, die aus freien Stücken länger arbeiten möchten, müssen steuerlich und bei der Rentenberechnung belohnt werden."
Beim Thema Renten sei das Land in drei Teile gespalten, schreibt der Corriere del Ticino. "Eine grosse Minderheit zieht Lösungen wie die Altersvorsorge 2020 vor, die als das kleinste Übel gilt; eine Mitte-Rechts-Minderheit wünscht sich, dass die Renten in der zweiten Säule voll entschädigt werden und das Rentenalter auf 67 Jahre ansteigt; und eine linke Minderheit stellt sich gegen jegliche Umstrukturierung und kämpft für die Abschaffung der beruflichen Vorsorge. Keine der drei kann allein einen Konsens für eine Reform herbeiführen."
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