Russland kehrt nach Olympia 2014 wieder zum Normalzustand zurück. Wladimir Putin hielt sich während der Spiele dezent im Hintergrund. Einen Tag nach Ende der Spiele hat die russische Polizei jedoch in Moskau über 100 Demonstranten festgenommen. Wir haben mit Janna Sauerteig, Russland-Expertin von Amnesty International, darüber gesprochen, wie es um die Menschenrechte in Russland nach den Olympischen Spielen steht.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat 2008 behauptet, die Menschenrechte in China hätten sich nach den Olympischen Spielen in Peking verbessert. Leider war das damals nicht der Fall. Könnte es in Sotschi besser werden?
Janna Sauerteig: Wir befürchten stark, dass die besorgniserregende Menschenrechtssituation in Russland bleibt, wie sie ist. Daran ändert auch die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele nichts. Fast täglich beobachten wir dieser Tage, wie Aktivisten und Kritiker aus der Zivilgesellschaft von russischen Behörden verfolgt und eingeschüchtert werden. Doch auch das IOC hat hier eine Verantwortung. Es bedarf künftig klarer Menschenrechtskriterien, die bereits vor der Vergabe von Olympischen Spielen aufgestellt werden und deren Einhaltung während der Spiele überwacht wird. Das IOC muss endlich Konsequenzen ziehen aus den Erfahrungen in China und Russland, damit Menschenrechte gewahrt werden, so wie es auch in der Olympischen Charta festgeschrieben ist.
In einem "offenen Brief" kritisierten zahlreiche westliche Autoren vor den Spielen die Zensur und die Anti-Homosexualitätsgesetze in Russland. Werden solche Appelle aus dem Westen in Russland überhaupt wahrgenommen?
Sauerteig: Die russische Führung nimmt eine Klare Haltung vom Westen gegenüber Russland wahr. Kritik an Gesetzen wie dem Anti-Homosexuellengesetz, die Menschenrechte einschränken, muss auch nach den Spielen öffentlich geäussert werden - und es muss international Druck auf Russland ausgeübt werden. Amnesty International fordert, dass
Der "offene Brief", die Amnestien für Michail Chodorkowski und Pussy-Riot: Ändert sich die Menschenrechtslage in Russland derzeit oder sind diese Aktionen nur medienwirksamer Hokuspokus von Wladimir Putin?
Sauerteig: Die Freilassungen gewaltloser politischer Gefangener vor Olympia wie die Frauen von Pussy Riot oder Michail Chodorkowski haben sich als Menschenrechtskosmetik erwiesen. Die vergangenen Wochen zeigen, dass selbst unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit Behörden und Gerichte nicht davor zurückschreckten, vor Ort tätige Umweltaktivisten wie Jewgeni Witischko oder bekannte Aktivisten wie die Frauen von Pussy Riot zeitweilig in Haft zu nehmen, um sie mundtot zu machen. Jewgeni Witischko wurde zudem nach einem unfairen Verfahren zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Amnesty International erkennt ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen an und fordert seine sofortige und bedingungslose Freilassung.
Haben die Verletzungen der Menschenrechte in den letzten zehn Jahren zugenommen?
Sauerteig: Die derzeitige Situation lässt sich nicht vergleichen mit den Zeiten währen der Sowjetunion. Dennoch beobachtet Amnesty International seit Putins erneutem Amtsantritt im Mai 2012 eine drastische Verschlechterung der Menschenrechtslage. Durch neue Gesetze wie das im November 2012 verabschiedete sogenannte "Agentengesetz" werden die Rechte auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungs- und die Versammlungsfreiheit extrem beschnitten. Die neuen Gesetze und massives Vorgehen staatlicher Behörden gegen Einzelne sowie Schikanen gegenüber Menschenrechtsorganisationen sollen Kritikerinnen in der russischen Zivilgesellschaft einschüchtern und stigmatisieren. Die Handlungsspielräume der unabhängigen russischen Zivilgesellschaft werden damit zunehmend eingeschränkt.
Fühlen sich die russischen Bürger in ihren Menschenrechten verletzt? Oder sehen sie ihre eigene Situation nicht so drastisch?
Sauerteig: Russische Nichtregierungsorganisationen und Aktivisten setzen sich trotz der Einschüchterungsversuche des Staates beständig zur Wehr. Bis heute hat sich zum Beispiel keine Menschenrechtsorganisation als "ausländischer Agent" registrieren lassen, wie es das sogenannte "Agentengesetz" fordert, wenn die Organisation Geld aus dem Ausland erhält und "politisch" tätig ist. Damit weigern sie sich konsequent, sich selbst als "ausländische Agenten" zu diffamieren. Trotz der Gefahr festgenommen zu werden oder Geldstrafen zu erhalten, gehen Menschen auf die Strasse, um für ihre Rechte öffentlich einzutreten.
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