Polarisierung: Unter diesem Stichwort lassen sich die diesjährigen Wahlen in neun Kantonen und in zahlreichen Gemeinden der Schweiz zusammenfassen. Bei den Parteien ist eine Polarisierung links-rechts, aber auch ein Stadt-Land-Graben festzustellen, wobei erstere nach links und die ländlichen Gebiete nach rechts tendieren.
In den Kantonen haben sich die Tendenzen bestätigt, die anlässlich der Eidgenössischen Wahlen im Oktober 2015 festgestellt wurden: Keine grosse Veränderung der Parteienlandschaft, eine Zunahme der Rechten, eine Konsolidierung der Linken und ein Abbröckeln der Mitte. Zu diesem Schluss kommen die Politologen Daniel Bochsler, Professor für Politikwissenschaft an den Universitäten Kopenhagen und Zürich, und Lukas Golder, Ko-Direktor des Forschungsinstituts gfs.bern.
Es ist ein Klassiker: Kantonale Wahlen im Jahr nach einem Eidgenössischen Wahljahr seien in der Regel eine Art "Verlängerung" der nationalen Tendenzen, erklärt Bochsler. Und Golder ergänzt: "Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Wählerinnen und Wähler, die sich bei den Eidgenössischen Wahlen für eine Partei entschieden haben, dieser auch bei kantonalen Wahlen ihre Stimme geben."
So geschah es auch dieses Mal: Die kantonalen Wahlen 2016 in der Schweiz widerspiegeln mehr oder weniger das Schema der Eidgenössischen Wahlen 2015.
Am meisten Sitze in Kantonsparlamenten konnte die rechtsbürgerliche Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) hinzugewinnen. Zwei Parteien der politischen Mitte waren laut den Politologen die grossen Verlierer: die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) und die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP).
Unter den Siegerparteien findet sich auch die politisch linke Sozialdemokratische Partei (SP), die mit insgesamt 459 Sitzen in kantonalen Parlamenten stabil an dritter Position der Rangliste in den Kantonen steht und in verschiedenen Regionen Sitzgewinne machen konnte.
Unklare Tendenz
Insgesamt bleibt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) auf Siegeskurs: in allen Kantonen zusammen hält sie insgesamt 590 Parlamentssitze (47 mehr als 2012), womit sie nicht nur im Eidgenössischen Parlament die wählerstärkste Partei ist.
In den Kantonsregierungen allerdings bleibt sie mit 23 Sitzen (+4) an vierter Stelle. "Schritt für Schritt schafft es die SVP auch in die Regierungen der Deutschschweizer Kantone. Doch das ist ein sehr langsamer Prozess. Die Leute akzeptieren zwar die provokative Art der SVP in den Parlamentsdebatten, aber nicht in Kantonsregierungen", betont Golder.
Trotzdem konnte die SVP laut Bochsler nicht überall gleich stark zulegen, im Gegensatz zur FDP – mit 534 Sitzen (+29) im zweiten Rang in den Kantonsparlamenten –, die dieses Jahr praktisch überall dazugewinnen konnte: "Die SVP konnte vorwärtsmachen, weil sie in den Kantonen St. Gallen und Thurgau gewonnen hat. Doch in den jüngsten Wahlen in den Kantonen Basel-Stadt, Aargau, Freiburg und in der Innerschweiz hat sie Sitze verloren. Deshalb ist die Tendenz nicht so klar."
Unaufhaltsamer Abstieg
Klar hingegen ist der Abstieg von CVP, die mit 435 Sitzen (-33) in den Kantonsparlamenten gegenwärtig an vierter Stelle steht, und BDP (66 Sitze, -20). Die CVP verliert bereits seit den 1990er-Jahren stetig an Wähleranteilen, und ein Ende scheint nicht abzusehen: "Während sie zuerst in jenen Kantonen Sitzverluste verzeichnete, in denen sie traditionell nie stark war, verliert sie jetzt überall, auch in ihren Stammlanden. Für die CVP gibt es national einen Abwärtstrend", so Bochsler.
Die SVP hingegen konnte in den letzten 20 Jahren in den konservativ eingestellten Kantonen immer mehr Wählerschaft hinter sich scharen, die zuvor CVP gewählt hatte: "Diese Personen identifizieren sich heute mehrheitlich mit der Politik der SVP", sagt der Politologe. Zudem hätten sie "früher wegen ihrer katholischen Identität die Vertreter der CVP gewählt, eine Identität, die heute nicht mehr so wichtig ist".
Auch unaufhaltsam scheint der freie Fall der BDP, jener Partei, die 2008 aus einer Spaltung der SVP hervorgegangen ist, nachdem deren Vertreter Christoph Blocher im Dezember zuvor in der Landesregierung (Bundesrat) nicht mehr bestätigt worden war.
"Die BDP ist die Partei in der dramatischsten Situation", sagt Bochsler. "Sie ist in den drei historischen Kantonen Graubünden, Bern und Glarus entstanden. Ausserhalb dieser Regionen, in denen sie stark war, konnte sie einige moderate Erfolge feiern, schaffte es aber nie, viele Wählerstimmen zu holen. Auf nationaler Ebene konnte sich die Partei nie über ihre Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf [die Blocher im Bundesrat ersetzte und Ende 2015 zurückgetreten ist] hinaus profilieren. Jetzt verliert sie überall, ausser in Graubünden. Man muss sich fragen, ob sie ausserhalb dieses Kantons eine Zukunft hat."
Wachstumspotenzial?
Bessere Perspektiven scheint die andere neuere Partei zu haben, die seit den Wahlen 2011 auf dem politischen Parkett der Schweiz agiert: die Grünliberale Partei (GLP), die mit 85 Parlamentssitzen (+22) in den Kantonen "zu gewinnen lernte und sich auf einem hohen Niveau halten konnte", sagt Lukas Golder. "Angesichts der Tatsache, dass sich die SP weiter nach links bewegt und die CVP weiter verliert, denke ich, dass diese Partei der sozialliberalen Mitte eine Zukunft haben kann."
Weniger optimistisch ist sein Kollege Daniel Bochsler. Er sieht für die Grünliberalen "wenig Wachstumspotenzial: Wo sie präsent sind, stagnieren sie auf einem Wähleranteil von fünf Prozent. Die einzigen Kantone, in denen sie wachsen könnten, sind jene, in denen sie sich eben erst etabliert haben und von Null anfangen: das heisst, in Schaffhausen und Schwyz".
Kantone einheitlicher, Graben Stadt-Land
Insgesamt bestätigt sich in den kantonalen Wahlresultaten 2016 eine weitere Tendenz der letzten 20 Jahre: Die Unterschiede zwischen den Kantonen würden langsam kleiner, unterstreichen die beiden Politologen. Es gebe weniger Parteien, die nur in einigen Kantonen präsent seien, und mehr, die in allen Kantonen antreten würden.
Zudem sei eine Angleichung der Programme und Kampagnen der einzelnen Parteien festzustellen: Heute orientierten sich die Kantonalparteien hauptsächlich am Programm der nationalen Mutterpartei, während es früher grosse Unterschiede zwischen den Kantonsparteien gegeben habe.
Zwar haben sich diese Unterschiede vielerorts ausgeglichen, doch in der gleichen Zeit sei der Graben zwischen Stadt und Land immer breiter geworden: In den urbanen Zentren dominiere die Linke immer mehr, während sich die Rechte in gleichem Mass in ländlichen Regionen verstärke, so die Experten.
Auch dies ist keine neue Tendenz, doch hat sie sich bei der letzten Runde der Gemeindewahlen verstärkt, besonders mit der Ausdehnung der Linken in kleineren Städten der Deutschschweiz wie Solothurn, St. Gallen, Burgdorf und Thun.
Ein Phänomen, das laut Lukas Golder "eher soziologischer als politischer Art ist: Die Gesellschaft ist immer mobiler, praktisch alle können heute frei wählen, wo sie leben wollen".
Deshalb zögen die Städte immer mehr Menschen an, denen das urbane Leben gefalle, die jung und offen gegenüber Veränderungen seien, während ländliche Gebiete eher solche auf der Suche nach Ruhe und einem traditionelleren Leben anlockten. "Diese Entwicklung wird sich wohl in den nächsten Jahren fortsetzen", so der Ko-Direktor des Forschungsinstituts gfs.bern.
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