Angela Merkel ist eine Meisterin des Machterhalts. Sie pflegt einen eigenwilligen Politikstil, aus dem Kritiker mit "merkeln" sogar ein eigenes Verb ableiten. Trotz bemerkenswerter Umfragewerte musste man in all den Jahren in den Chor der Begeisterten nicht einstimmen und Angela Merkel gut finden. Doch mit der Flüchtlingskrise hat sich etwas geändert. "Dunkeldeutschland" fordert den Rücktritt der Kanzlerin, aus den eigenen Reihen wird Merkel angezählt. Und genau deshalb überdenkt ein Kritiker jetzt seine Kritik.

Eine Analyse
von Michael Wollny
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Wollny sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Merkel gut finden? Gerade dann, wenn alle auf die Kanzlerin und ihre Politik einprügeln?

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Ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass es mal so weit kommt.

Jeder Dritte in Deutschland fordert nun also den Rücktritt von Angela Merkel. Ausgerechnet wegen ihrer Flüchtlingspolitik? - Da hätte es in der Vergangenheit nun aber mal wirklich eine Handvoll besserer Gründe gegeben.

Klare Kante - zur falschen Zeit

Mit dem politischen Stil von Angela Merkel konnte ich nie wirklich etwas anfangen. Nicht aus Prinzip, sondern aufgrund Merkels Prinzipienlosigkeit, die in der NSA-Affäre besonders anschaulich wurde, als man sich endlich mal klare Kante zur rechten Zeit gewünscht hätte.

Doch klare Kante gab es nur zugunsten eines radikalen Spardiktats, das einer griechischen Gesellschaft im Hier und Jetzt die Hoffnung nimmt und mindestens zwei Generationen gar die Perspektive.

Klare Kante zugunsten ach so Not leidender Grossbanken und selbstverständlich zugunsten deutscher Automobilkonzerne, deren PS-Wahn lästige Klimaschutzziele im Weg standen.

In diesem ungenierten Kniefall vor den Lobbyisten wollte ich weder gesellschaftliche Verantwortung erkennen, noch politisch nachhaltiges Gestalten.

Kanzlerin auf Tauchstation

Wenn derlei Qualitäten tatsächlich gefragt waren, tauchte die Kanzlerin gerne in ihrem Demoskopie-U-Boot ab, fuhr irgendwann das Periskop aus und suchte den Horizont nach jener Meinung ab, die im öffentlichen Kampf der Argumente nicht vom Boulevard versenkt worden war.

Hinter dieser Meinung tauchte Merkel dann wieder auf und machte sie zu ihrer eigenen - so lange jedenfalls, wie dies von Nutzen war, dem Machterhalt förderlich. Von diesem opportunistischen Regierungsstil profitierte die gesamte Union.

Doch dann kamen die Flüchtlinge.

Es ist zwar nicht richtig, wie nun teilweise verklärt dargestellt wird, dass sich Angela Merkel in der Flüchtlingskrise von Anfang an über ihre Entscheidung hinaus, die Grenzen im Sommer nicht zu schliessen, klar positioniert hätte.

Schliesslich blieb die Kanzlerin später selbst dann noch auf Tauchstation als Hass und Fremdenfeindlichkeit in Heidenau explodierten oder Münchner Erstaufnahmeeinrichtungen aus allen Nähten platzten.

Man könnte also munkeln, dass sich Merkel in ihrer Meinungsbildung auch hier hat leiten lassen, von einer bemerkenswerten Reaktion der Münchner Bevölkerung, als Zehntausende Flüchtlinge nach verzweifelter Odyssee aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder dem Irak täglich im Hauptbahnhof der bayerischen Landeshauptstadt strandeten.

Traumatisiert und gezeichnet von Krieg und Terror sowie Ungarns Verständnis von Menschlichkeit.

Angst vor dem Fremden und Fremdenhass

Warum Merkel in diesem Drama plötzlich Klartext redete, ist irrelevant. Wichtig ist nur, dass sie es tat und dieser Linie treu bleibt, obwohl ihr dafür nur wenige applaudieren.

Denn ihre Haltung ist vieles: rigoros und riskant, mutig und menschlich - doch opportun ist sie nicht, in einem sich selbst demaskierenden Deutschland, dessen diffuse Angst vor dem Fremden auf der einen sowie offener Fremdenhass auf der anderen Seite den ideologisch Verirrten von Pegida und AfD neuen Auftrieb verleihen.

Merkel steht im Kreuzfeuer. Schwere Geschütze von ganz rechts aussen, aber auch populistische Salven aus den eigenen Reihen. Doch Angela Merkel bleibt ihrer Linie treu, taucht nicht mehr ab.

In völliger Ignoranz gegenüber den Konsequenzen und nur auf den eigenen politischen Vorteil bedacht, giesst ihre Nemesis Horst Seehofer mit seinen Parolen wöchentlich Öl in ein gesellschaftliches Feuer, an dem radikale Wirrköpfe dankbar ihre Brandsätze entzünden, bevor Flüchtlingsunterkünfte brennen.

Merkel stellt sich gegen diese Agitation und wirkt dabei tatsächlich glaubwürdig.

Die Kanzlerin ist empathisch genug, um sich nicht der Selbstverständlichkeit von Menschlichkeit zu verweigern. Und sie ist wohl realistisch genug, um zu erkennen, dass sich diese beispiellose Flüchtlingskrise nur mit Empathie allein nicht lösen lassen wird.

Auf Linie mit Angela Merkel

Also erwische ich mich plötzlich bei der Tatsache, dass ich einer Meinung bin mit dieser Bundeskanzlerin. Auf Linie mit Angela Merkel. Sachen gibt's...

Aber wer in der Regel kritisiert, schimpft und stöhnt, der sollte eben auch über seinen Schatten springen, wenn die Ausnahme von der Regel eintritt.

So ist es nur fair, Angela Merkel Respekt zu zollen. Respekt für ihren hohen Einsatz, der sie nichts Geringeres als ihre Kanzlerschaft kosten könnte. Merkel weiss das, war ihr Regierungsstil als Teflon-Kanzlerin bislang vor allem auf Machterhalt kalibriert.

Wenn nun in Deutschland Rassismus und Fremdenhass wieder salonfähig werden und sich Ewiggestrige hinter Reichskriegsflagge und Wirmer-Fahne gegen "Gutmenschen", "Lügenpresse" und der "Volksverräterin" im Kanzleramt mobilisieren, dann kann dies nur mit einer entgegengesetzten Solidarität der Aufgeklärten beantwortet werden.

Denn, meinte Angela Merkel jüngst, "wenn wir jetzt anfangen, uns noch dafür entschuldigen zu müssen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land".

Dass ich ihr darin zustimme, macht Merkel zwar noch lange nicht zu meiner Kanzlerin, aber uns beide zu überzeugten "Gutmenschen".

Und davon kann es - egal ob schwarz, rot, gelb oder grün - einfach nicht genug geben, wenn sich das Braune wieder in den Vordergrund drängt.

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