Sie wurde verehrt und gehasst. Sie war die mächtigste Frau der Welt, und doch entglitt ihr irgendwann die Macht. Sie hat das Land durch Krisen gelotst und ihm trotzdem viele Baustellen hinterlassen. Jetzt wird Altkanzlerin Angela Merkel 70. Blick auf eine unwahrscheinliche Karriere.

Eine Analyse
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Erinnern Sie sich noch an Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland von 2005 bis 2021? Natürlich ist das eine rhetorische Frage. Natürlich hat niemand sie vergessen, im Guten oder im Schlechten.

Aber ist es nicht erstaunlich ruhig geworden um die ehemals mächtigste Frau Deutschlands und der Welt? Kriege, Klima, Energiekrise, Inflation haben die Aufmerksamkeit auf ihre Nachfolger gelenkt. Merkel selbst meldet sich fast nicht mehr zu Wort.

Jetzt feiert sie einen runden Geburtstag. Am 17. Juli wird die Altkanzlerin 70. Ein Anlass, um zu fragen: Was ist geblieben von Merkel? Und was haben wir noch von ihr zu erwarten?

Angela Merkel: Eine unwahrscheinliche Karriere

Am 17. Juli 1954 also wurde Angela Dorothea Kasner in Hamburg geboren. Kurz danach zog ihre Familie in die damalige DDR. Die Pfarrerstochter lebte ein unauffälliges Leben als Wissenschaftlerin. Bis die Mauer fiel und Merkel – wohl eher zufällig – den Weg in die Politik fand.

"Angela Merkel hat gezeigt: Der Weg in die höchsten Staatsämter ist uns Ostdeutschen nicht verwehrt."

Sepp Müller, CDU-Bundestagsabgeordneter

Und dieser Weg führte immer weiter nach oben. Abgeordnete, Bundesministerin, CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin. Dieser Aufstieg war auch so spektakulär, weil Merkel das Gegenteil des bundesdeutschen Durchschnittspolitikers verkörperte: Frau, Physikerin, ostdeutsch, Ruhe-Raute statt Basta-Brutalität.

"Angela Merkel hat gezeigt: Der Weg in die höchsten Staatsämter ist uns Ostdeutschen nicht verwehrt – auch wenn dafür besondere Anstrengungen nötig sind", sagt Sepp Müller, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Landesgruppe Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Sie blieb immer rätselhaft, ja widersprüchlich: Uneitel – und doch machtbewusst. Witzig und geistreich hinter den Kulissen – aber trocken im öffentlichen Auftritt. Sie war "Kohls Mädchen" – und vollzog später den Bruch mit dem Altkanzler. Sie regte im Bundestag eine Abstimmung über die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare an – und stimmte dann selbst dagegen.

Erst förderte er sie, dann setzte sie sich von ihm ab: Die damalige Bundesfrauenministerin Angela Merkel 1991 mit Bundeskanzler Helmut Kohl. © dpa/Michael Jung

Auch ihre Rolle als Ostdeutsche blieb zwiespältig. Schliesslich musste Merkel die Regierungschefin des ganzen Landes sein. Angela Merkel habe als erste Frau im Kanzleramt bewiesen, "dass sie es genauso gut kann wie nicht wenige männliche Kanzler", sagt der Linken-Politiker Gregor Gysi, der die wundersame Karriere über die Jahre und Jahrzehnte beobachtet hat, unserer Redaktion. "Sie ist ostdeutsch, brauchte aber für ihre Wahl vor allem die alten Bundesländer und hat sich deshalb zu wenig für den Osten engagiert", findet Gysi. "Die Ungleichbehandlung blieb."

Höhe- und Wendepunkte einer Kanzlerschaft

Merkel steuerte das Land durch Krisen. Einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge sind 61 Prozent der Deutschen heute der Meinung: Die Verhältnisse im Land sind nach dem Ende von Merkels Kanzlerschaft schlechter geworden. Ihre zurückgenommene Art vermittelte vielen Menschen Sicherheit. Der parteiinterne Spitzname Mutti kam nicht von ungefähr.

Die Jahre 2013 bis 2016 waren vielleicht die entscheidenden dieser Kanzlerschaft. Bei der Wahl 2013 hätte die Union fast die absolute Mehrheit geholt. "Die CDU ist durch Angela Merkel moderner geworden. Sie hat die Partei in die Mitte geführt und sie auch in Grossstädten wieder stärker wählbar gemacht", sagt der frühere Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz im Gespräch mit unserer Redaktion, der der damaligen Parteichefin im Jahr 2000 als CDU-Generalsekretär diente.

In einer ARD-Dokumentation zu Merkels Geburtstag ist ein interessanter Satz von ihr zu hören: "Ich glaube, die Bürger betrachten Politik als eine Dienstleistung. Und die Dienstleistung besteht darin, dass man Probleme löst."

Das war ihr Rezept. Doch es ging nicht immer auf.

Angela Merkel Geburtstag 70
Ein Bild für die Geschichtsbücher: Angela Merkel und der irakische Flüchtling Shaker Kedida im September 2015 in Berlin-Spandau. © dpa/Bernd von Jutrczenka

Die Jahre 2015 und 2016 waren auch ein Wendepunkt. Im Spätsommer 2015 trieb der syrische Bürgerkrieg immer mehr Menschen in die Flucht. Merkel entschied sich dafür, die Grenzen nicht zu schliessen – und sagte am 31. August 2015 ihren wohl legendärsten Satz: "Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das."

In einem Teil der Gesellschaft brachte ihr das Respekt und Anerkennung ein – im anderen stiess sie auf Unverständnis. "Ab 2015 hat die Kritik an der nicht erfolgten Grenzschliessung zugenommen. Das bezog sich auf die Partei, aber auch auf Frau Merkel als Person. Auch dieses Erbe wird bleiben", sagt Sepp Müller.

Offene Baustellen

Euro-Rettung, Fluchtbewegung, Corona-Pandemie: Merkel hat regiert und reagiert, aber das Land damit auch polarisiert. Der Aufstieg und die Etablierung der AfD sind ebenfalls ein Phänomen ihrer Kanzlerschaft. Auch wenn das Vorrücken der radikalen Rechten eine internationale Entwicklung ist.

Ihre eigene Partei ist Merkel am Ende mehr oder weniger entglitten. Ihren Abschied aus dem Kanzleramt hat sie 2021 trotzdem selbstbestimmt vollzogen – im Gegensatz zu den meisten Vorgängern. Doch deutlich ist auch, welche Baustellen sie dem Land hinterlassen hat.

"Bei allen Verdiensten und allem Positiven bleiben Themen, die sie stärker hätte anpacken müssen", sagt Ruprecht Polenz. Er nennt die Klimakrise und die Digitalisierung. Aber auch der Bau der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 sei ein Fehler gewesen.

Vor Hunden hat Angela Merkel Respekt. Ob Wladimir Putin ihr nur eine Freude machen wollte, als er seine Labrador-Hündin an ihr schnüffeln liess? "Wer's glaubt", hat Merkel dazu einmal gesagt. © dpa/Dmitry Astakhov

Der CDU-Politiker Jens Spahn, der Merkel mehrere Jahre als Gesundheitsminister diente, sagt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Kanzlerin habe drei Fehler gemacht: die nichterfolgte Grenzschliessung, der Ausstieg aus der Atomenergie – und: ein falscher Umgang mit Russland.

Merkel nimmt für sich in Anspruch, viel getan zu haben für ein friedliches Miteinander mit Russland in Europa. "Ich bin froh, dass ich mir nicht vorwerfen lassen muss: Ich hab’s zu wenig versucht", hat sie im Juni 2022 beim ersten öffentlichen Auftritt nach ihrer Amtszeit gesagt.

Trotzdem hatte der russische Präsident Wladimir Putin kurz zuvor das Nachbarland Ukraine überfallen und damit auch die Merkelsche Ausgleichspolitik zu Scherben geworfen. Es ist anzunehmen, dass dieses Thema sie heute umtreibt wie kein anderes.

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Merkel und die CDU: auf gegenseitiger Distanz

An einer kritischen Debatte über ihre Amtszeit beteiligt sie sich bislang trotzdem nicht. Sie mache jetzt nur noch Wohlfühltermine, hat Merkel 2022 gesagt.

Die CDU hat sich inzwischen von der Altkanzlerin und ihrer Politik losgesagt, und umgekehrt ist auch Merkel auf Distanz gegangen. Einen Ehrenvorsitz hat sie abgelehnt, die parteinahe Konrad-Adenauer-Stiftung verlassen. Die Einladung zum CDU-Bundesparteitag schlug sie im vergangenen Mai aus. Stattdessen tauchte sie wenig später bei der Verabschiedung des Grünen-Politikers Jürgen Trittin auf. Eine interessante Schwerpunktsetzung für eine Frau, die 18 Jahre CDU-Vorsitzende war.

Wie auch immer man zu ihr stehen mag: Merkel hat sich jahrzehntelang in den Dienst der Politik gestellt, körperliche Grenzen erreicht oder überschritten. Offenbar hat sie sich danach das Recht genommen, auf Verpflichtungen und Erwartungen ein Stück weit zu pfeifen.

Dieser eigene Kopf sei doch geradezu merkeltypisch, findet Sepp Müller. "Sie hat ihren Abschied aus dem Kanzleramt selbst bestimmt, sie hat danach keinen Aufsichtsratsposten angenommen. Es ist auch die Freiheit jedes Einzelnen, zu sagen: Jetzt ist Schluss."

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fliessen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäss dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Bücher gelesen und geschrieben

Was bekannt ist über Merkels Leben nach der Politik: Sie hat dicke Bücher gelesen, Shakespeare-Hörbücher gehört, Zeit an der Ostsee und in ihrer Datsche verbracht. Vor allem aber hat sie weitergearbeitet: Sie hat ihre Memoiren geschrieben. "Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021" soll das Buch heissen, berichtet die Katholische Nachrichtenagentur.

700 Seiten dick soll es sein und im Spätherbst erscheinen. Damit wird sie sich also noch einmal zu Wort melden in diesem Jahr. Offenbar ist es auch ihr, der unprätentiösen Mächtigen, wichtig, dass man sich noch erinnern wird an Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland von 2005 bis 2021.

Verwendete Quellen

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