Noch nie stand Angela Merkel so stark unter Druck wie derzeit. Doch das Grundgesetz sichere der Bundeskanzlerin weiterhin eine machtvolle Position, sagt Politikwissenschaftler Uwe Jun.

Ein Interview

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Der eigene Innenminister setzt ihr ein Ultimatum, sonst will er gegen ihren Willen künftig bestimmte Flüchtlinge an der deutschen Grenze abweisen. In kurzer Zeit muss sie nun andere europäische Staaten zu einer Einigung bewegen, die bisher immer unmöglich schien: Im Streit um die Flüchtlingspolitik mit der Schwesterpartei CSU wirkt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wie eine Getriebene. Aber ist sie das wirklich?

Der Politikwissenschaftler Uwe Jun, Professor an der Universität Trier, betont im Interview mit unserer Redaktion: Die Kanzlerin sei schwer aus dem Amt zu drängen. Und auch die CSU stecke in einer schwierigen Situation.

Herr Jun, steht die Kanzlerschaft von Angela Merkel derzeit auf dem Spiel?

Uwe Jun: Es ist unklar, was die CSU mit ihren Attacken konkret bezweckt – ausser dass sie damit anscheinend beim bayerischen Wähler besser ankommen will und offensichtlich ihre inhaltliche Abneigung markieren möchte. Alles andere steht in den Sternen.

Es ist offensichtlich, dass die CSU-Führung die Kanzlerin gezielt angreift. Der andere Koalitionspartner, die SPD, hat sich aber bisher nicht gegen Merkel gestellt. Damit ist es schwierig, die Kanzlerin aus dem Amt zu drängen. Da sind verfassungsrechtlich enge Grenzen gesetzt.

Glauben Sie, dass es der CSU wirklich darum geht, Merkel aus dem Amt zu drängen?

Ich kann nicht ermessen, ob dieser Gedanke eine Rolle spielt. Es würde der CSU für die bayerische Landtagswahl jedenfalls wenig helfen, wenn die Kanzlerin gestürzt wird.

Merkel hat noch die Möglichkeit, eine Regelung zur Flüchtlingspolitik auf EU-Ebene herbeizuführen. Wie wahrscheinlich ist es, dass ihr das gelingt?

Das ist keine einfache Aufgabe. In der EU gibt es keine einheitliche Haltung in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Da haben nationale Sichtweisen relativ stark die Oberhand gewonnen. Vielleicht mit Ausnahme des französischen Präsidenten hat Merkel keinen machtvollen Mitspieler auf ihrer Seite, um ihre Position durchzusetzen. Die Voraussetzungen sind alles andere als günstig.

Bundesinnenminister Horst Seehofer will bestimmte Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückweisen, wenn Merkel keine Einigung gelingt. Kann eine Kanzlerin es akzeptieren, dass ein Minister etwas umsetzt, das sie deutlich ablehnt?

Sie hat verfassungsrechtlich die Möglichkeit, ihre Richtlinienkompetenz geltend zu machen. Und sie kann auch jederzeit einen Minister entlassen. Eine solche Entlassung hätte natürlich gravierende politische Folgen. Die Kanzlerin hat aber auch inhaltliche Möglichkeiten. Sie kann auf Kompromisssuche gehen oder die CSU-Linie stärker in ihre Politik aufnehmen.

Wenn sie Seehofer aber wirklich entlässt, würde das doch bestimmt auf einen Bruch der Koalition hinauslaufen. Das würde die CSU sicherlich nicht mitmachen.

Die CSU könnte dann die Koalition verlassen – und sogar auch noch die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. Doch das hätte strategisch nicht unbedingt positive Folgen für sie. Denn der Bruch der Fraktionsgemeinschaft könnte dazu führen, dass auch die CDU in Bayern politisch aktiv wird. Und dann wäre die absolute Mehrheit der CSU dort wohl dahin. Die strategischen Möglichkeiten der CSU sind also begrenzt. Wenn sie die Regierung verlässt, verliert sie zudem bundespolitischen Einfluss.

Steht Merkel also gar nicht so schwach dar, wie es derzeit aussieht?

Exakt – wir haben nun einmal eine Verfassung in Deutschland, die auf Stabilität ausgelegt ist. Es ist schwer, eine amtierende Bundeskanzlerin aus dem Amt zu drängen. Ich kann derzeit nicht erkennen, dass es auch Absatzbewegungen der SPD gäbe.

Ohne die CSU hätten CDU und SPD aber keine Mehrheit – und müssten auf die Suche nach einem neuen Partner gehen.

Auch das würde aber noch nicht bedeuten, dass die Bundeskanzlerin aus dem Amt gedrängt wird – denn es gäbe weiterhin keine Mehrheit gegen sie. Es wäre möglich, dass Merkel eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD fortführt. Es wäre aber auch denkbar, dass sie einen anderen Koalitionspartner ins Boot holt. Derzeit sehe ich da nur die Grünen.

Das müsste die CDU allerdings mittragen. Auch dort gibt es ja einige Abgeordnete, die Merkels Kurs nur murrend akzeptieren.

Das ist ein anderer Punkt, der vielleicht auch in den Überlegungen der CSU eine Rolle spielt: nämlich dass sie die konservativen Kreise der CDU auf ihre Seite ziehen will. Damit würde die CSU möglicherweise erreichen, dass sich die Politik mehr in ihre Richtung bewegt. Aber das ist in der CDU in der derzeitigen Situation nur begrenzt durchsetzbar, denn sie wird keinen offenen Bruch mit der eigenen Parteivorsitzenden und Kanzlerin herbeiführen wollen.

Seehofer soll über Merkel gesagt haben, er könne mit ihr nicht mehr zusammenarbeiten. Wie wichtig ist das persönliche Verhältnis der Akteure für eine Koalition?

Es ist für eine Koalition wichtig, dass man wechselseitiges Vertrauen aufbaut. Wenn das nicht vorhanden ist, wird ein Regieren denkbar schwierig. Wenn Herr Seehofer das wirklich verspürt, wäre es für ihn sicherlich schwierig, in solch einer Koalition noch zu agieren. Wenn er kein Vertrauen zur Kanzlerin mehr hat, müsste er allerdings auch von sich aus entsprechende Konsequenzen ziehen.

Uwe Jun ist seit 2005 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Zuvor hat er unter anderem in Göttingen, an der Freien Universität Berlin sowie in Harvard gearbeitet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das deutsche Parteiensystem.

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