- Eine so lange Amtszeit wie Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der Geschichte der Bundesrepublik nur Helmut Kohl geschafft.
- Dabei wusste sich Merkel immer zum richtigen Zeitpunkt in Stellung zu bringen.
- Doch ihre Partei, die CDU, hinterlässt sie nun in keinem guten Zustand.
In 16 Jahren als Bundeskanzlerin musste
Angela Merkels grösste Erfolge
Machtmensch
Angela Merkel hat immer gewusst, wann sie sich positionieren muss: Darin sieht Politikwissenschaftlerin Ursula Münch einen zentralen Punkt für ihren politischen Erfolg. Schon wenige Monate nach der Wende, im Dezember 1991, wurde Merkel zur stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden gewählt. Sie übernahm das Amt von Lothar de Maizière, gegen den zuvor Stasi-Vorwürfe aufgekommen waren.
"Es ist bemerkenswert, wie viele Fähigkeiten und wie viel Machtinstinkt in dieser Frau gesteckt haben", sagt Münch. Ein Aspekt, den auch Werner Weidenfeld betont: "Merkels grosse Stärke ist die sehr souveräne Pflege der Machtarchitektur", sagt der Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München. "So langfristige politische Akzeptanz, das ist eine sehr eindrucksvolle Leistung." Besonders, weil sie den Schlusspunkt selbst gesetzt habe.
Kohl-Distanzierung zur rechten Zeit
"Die von
Kohl, damals Bundestagsabgeordneter und CDU-Ehrenvorsitzender, stand wegen der Parteispendenaffäre unter Druck. Er hatte zugegeben, unter Umgehung des Parteiengesetzes zwischen 1993 und 1998 "anderthalb bis zwei Millionen Mark Spenden" angenommen zu haben. Den Spendern habe er sein Ehrenwort gegeben, ihre Namen nicht zu nennen.
Kohl war in den frühen Jahren ihrer Karriere Merkels politischer Mentor. Er hatte sie – heute undenkbar – "mein Mädchen" genannt. Die öffentliche Distanzierung von Kohl kam zum richtigen Zeitpunkt, betont Münch. "Wie sie sich innerhalb der CDU durchgesetzt hat, ist höchst bemerkenswert."
Kluger Verzicht auf Kanzlerinnenkandidatur
Das "Wolfratshauser Frühstück" hat sogar einen Wikipedia-Eintrag: Im Haus von
"Merkel agierte sehr klug: Sie wusste, dass ihre Position noch nicht stark genug ist – und überliess Stoiber die Kandidatur", sagt Ursula Münch. Allerdings brachte sich Merkel klar in Stellung: Sie stellte Stoiber für ihren Verzicht eine Bedingung: Nach der Wahl wollte sie Fraktionsvorsitzende werden – anstelle von
Stoiber verlor die Wahl,
Grosse Europa- und Aussenpolitikerin
Vielen gilt Angela Merkel als grosse Europa-Politikerin. "Sie hat eine Führungsrolle übernommen, ohne andere abzuschrecken", erklärt Werner Weidenfeld. Merkel wird von Politikern anderer Staaten hoch respektiert, aus vielen Ländern höre man Bedauern, dass die Kanzlerin ihr Amt nun abgibt. "Dabei hat ihr auch ein Punkt geholfen, den sie indirekt von Helmut Kohl kopiert hat", glaubt Weidenfeld: "Sie hat Dinge durchgesetzt, ohne auf den Tisch zu hauen. Stattdessen hat sie anderen das Gefühl gegeben hat, ein eigenes Erfolgserlebnis zu haben."
Diese gute Position in der EU hat Merkel auch als Aussenpolitikerin den Rücken gestärkt. Ursula Münch nennt die Ukraine-Krise als Merkels aussenpolitisches Meisterstück. Als Russland 2014 die Krim annektierte, verhinderte die deutsche Kanzlerin einen militärischen Grosskonflikt zwischen Russland und der Ukraine. "Da hat sie bewiesen, dass sie mit Unterstützung der EU eine Rolle in der Weltpolitik spielt." Auch ihr geschickter Umgang mit Autokraten wie Putin oder Erdogan hat ihr weltweit Respekt eingebracht.
Bedachte Krisenmanagerin
"Angela Merkel ist eine kluge, geschickte Krisenmanagerin", sagt Werner Weidenfeld. Eine Einschätzung, die Ursula Münch teilt: Die Kanzlerin brauche etwas Zeit, um sich einzuarbeiten – und treffe dann gute und richtige Entscheidungen. "Die Bankenkrise etwa hat Angela Merkel im Grossen und Ganzen sehr gut gemeistert."
Zunächst garantierten Merkel und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück deutschen Sparerinnen und Sparern im Oktober 2008, die Sicherheit ihrer Einlagen. Doch Merkel wurde schnell klar, dass dieses Problem nicht auf nationaler Ebene gelöst werden konnte und der Euro ernsthaft in Gefahr war. Im Mai 2010 bezeichnete sie den EU-Rettungsschirm von mehr als 700 Milliarden Euro als alternativlos.
Angela Merkels grossen Niederlagen
Keine Langzeitstrategin
Dass Angela Merkel akute Krisen stets gut managte, ist die eine Sache. "Allerdings hat sie zu keiner der grossen Herausforderungen eine mittel- oder langfristige Strategie", kritisiert Professor Weidenfeld. Der Politikwissenschaftler sieht darin ein Grundmuster der Misserfolge Merkels.
Das populärste Beispiel: Merkels "Wir schaffen das", als sie 2015 die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien öffnete. "Damit hat sie gut reagiert. Aber sie hat die nächsten fünf, sechs Schritte dazu nicht mitgedacht." Aus Sicht des Experten hätte sich die Bundesregierung viel mehr um Strukturveränderungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten kümmern, oder viel schneller ein Einwanderungsgesetz verabschieden müssen.
Brexit-Verantwortung
Zum 1. Februar 2020 hat das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen. Dass die Briten sich gegen die EU-Mitgliedschaft entschieden haben, geht Münchs Einschätzung nach auch auf Angela Merkels Kappe. "Sie hat vieles zusammengehalten. Aber gerade ihre Flüchtlingspolitik gab den Briten das Gefühl, dass die EU hilflos ist", glaubt sie.
"Mein Gefühl ist, dass die wahre Schurkin in diesem ganzen Brexit-Drama Angela Merkel ist", erklärte beispielsweise Tom Bower, Biograf des britischen Premiers Boris Johnson, in einem Interview mit "Spiegel". Schon vor 2015 wollte der damalige britische Regierungschef David Cameron die Migration aus anderen EU-Staaten nach Grossbritannien begrenzen. "Cameron brauchte ein Zugeständnis, vor allem beim Thema Einwanderung, aber er hat keines bekommen", sagte Bower. Und: "Wäre Merkel ihm entgegengekommen, hätte es den Brexit nie gegeben."
Versagen in Syrien
Auf die Eskalation der Lage in Syrien hätte sich die internationale Politik besser vorbereiten können, glaubt Ursula Münch ausserdem: "Diese Krise hat sich lange angebahnt – und Angela Merkel war eigentlich lange genug im Amt, um das zu erkennen."
Münch kritisiert, dass die westlichen Staaten nur zugeschaut hätten, als die Vereinten Nationen im Herbst 2014 ihre Lebensmittelhilfe für Flüchtlinge in Syrien, im Libanon und in der Türkei wegen Geldmangels drastisch senken mussten. "Das hat viele Menschen veranlasst, die Flüchtlingslager zu verlassen und sich auf den Weg nach Europa zu machen."
Zu wenig Klimakanzlerin
Eine Klimakanzlerin war Angela Merkel wahrlich nicht. Bei ihrer letzten Sommerpressekonferenz im Juli räumte sie es sogar selbst ein: In Deutschland ist "nicht ausreichend viel passiert", um das Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten.
Ursula Münch drückt es etwas drastischer aus als die Kanzlerin: "Lächerlich wenig ist in Sachen Klimaschutz passiert." Angela Merkel sei von 1994 bis 1998 immerhin Bundesumweltministerin gewesen – und als Physikerin verstünde sie die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, gibt die Politikprofessorin zu bedenken.
Dass Merkel am späten Braunkohle-Ausstiegsjahr 2038 festgehalten hat, hält Münch für einen grossen Fehler. Ihrer Meinung nach wäre es klüger gewesen, den Atomausstieg zu verzögern – und sich mit Blick aufs Klima früher von der Kohle zu verabschieden.
Keine Parteifrau
Zur Aufgabe von Parteien gehört es, Personal aufzubauen. Merkel hätte die junge Garde und mehr Frauen fördern sollen, sagt Ursula Münch. Annegret Kramp-Karrenbauer ist als CDU-Vorsitzende schnell gescheitert. "Sie hat es aus verschiedenen Gründen nicht geschafft – aber auch, weil Merkel ihr eine grosse Bürde aufgelastet hat." Dass Merkel den CDU-Vorsitz abgegeben hat, aber Kanzlerin geblieben ist, wurde vor allem für ihre Nachfolgerin zum Bremsklotz bei der eigenen Profilierung: "Weder AKK noch Armin Laschet konnten so ihre eigene Politik durchsetzen."
Merkel sei keine Parteifrau, sagt auch Werner Weidenfeld. "Die Art und Weise, wie in Westdeutschland Politik gemacht wird, musste die ehemalige DDR-Bürgerin wie eine Fremdsprache lernen." Ihr Beitrag zur Entwicklung der Parteien und ihrer eigenen Partei sei sehr begrenzt gewesen. "Es hat mich sehr verwundert, dass sie trotz ihrer langen Erfahrung und der langen Zeit an der Macht, keine künftigen Führungsgruppen in Stellung gebracht hat." Angela Merkel hinterlässt die CDU in keinem guten Zustand, sagt Weidenfeld: "Die Partei ist programmatisch und personell ausgetrocknet."
Ursula Münch ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und leitet seit 2011 die Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Sie forscht unter anderem zu Föderalismus, Parteien und demokratischem Wandel.
Professor Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (C.A.P.) an der Universität München. Ausserdem amtiert er als Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg und ist Vizepräsident des Cyber-Sicherheitsrats Deutschland.
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit Ursula Münch und Werner Weidenfeld
- Süddeutsche Zeitung: CDU-Spendenaffäre - "Was kommt da auf uns zu?":
- Spiegel Online: Merkel in der FAZ: Kohl hat der Partei Schaden zugefügt
- SWR2: Angela Merkel lässt Edmund Stoiber Kanzlerkandidat werden
- Biograf des britischen Premiers: „
Boris Johnson wird wieder auferstehen“
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