• Im September nach der Bundestagswahl endet aller Voraussicht nach die Ära von Kanzlerin Angela Merkel.
  • Einer ihrer langjährigen Mitstreiter, der ehemalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber, spricht im Exklusivinterview über die Zusammenarbeit mit Merkel, deren Stärken und Hinterlassenschaften.
  • Ausserdem verrät er, warum sie ihm 2002 die - am Ende gescheiterte - Kanzlerkandidatur überliess und das Ausbooten von Friedrich Merz vielleicht einer der wichtigsten politischen Schachzüge Merkels war.
Ein Interview

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Herr Stoiber, beschreiben Sie doch mal den Typus der Politikerin Angela Merkel?

Edmund Stoiber: Angela Merkel unterscheidet sich vom Typ her stark von Helmut Kohl, Franz Josef Strauss oder auch von mir, die ihre Politik stärker mit Emotionen verbunden haben. Sie brachte den Typus der Naturwissenschaftlerin in die hohe Politik, den gab es bis dahin nicht. Vorher waren die Kanzler Juristen, Volkswirte oder Historiker. Als Physikerin war sie ein neues Gesicht und eine neue Persönlichkeit: Nüchtern, sachlich, mit grosser Kontrolle über ihre Emotionen.

So kamen dann auch ihre Entscheidungen zustande, oder?

Es gab sicherlich auch Entscheidungen, die überwiegend emotional begründet waren, etwa den Ausstieg aus der Kernenergie oder die Offenhaltung der Grenzen für Flüchtlinge im Herbst 2015. Das waren meines Erachtens untypische Entscheidungen für sie, die auch immer Prozesse der Meinungsbildung abgewartet oder zumindest aufgenommen hat, anstatt von Anfang an den Weg vorzugeben. Sie hat meistens nach gründlicher Überlegung die Weichen gestellt, in diese oder in jene Richtung.

Wie lief die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Frau Merkel ab?

Ich kenne sie schon seit 1990, als sie stellvertretende Regierungssprecherin unter Lothar de Maizière, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten war. In den Folgejahren haben wir in vielen politischen Funktionen eng zusammengearbeitet, zum Beispiel als stellvertretende Vorsitzende beziehungsweise Vorsitzende unserer Parteien oder in unseren Regierungsämtern auf Bundes- bzw. Landesebene. Wir haben während meiner Kanzlerkandidatur 2002 sehr viele gemeinsame Veranstaltungen gemacht. Sie hat mich als Vorsitzende der grösseren Schwesterpartei sehr loyal unterstützt, auch wenn wir als Redner natürlich zwei unterschiedliche Typen waren.

Edmund Stoiber: "Ich halte meine Reden immer mit viel Leidenschaft"

Inwiefern?

Ich halte meine Reden immer mit viel Leidenschaft und versuche auch, meine Kernbotschaften so einfach wie möglich rüberzubringen. Damit spreche ich ganz bewusst auch diejenigen an, die Politik nicht ständig mitverfolgen. Angela Merkel dagegen ist auch in ihren Reden sehr analytisch und sachlich.

Gab es vor Ihrer Kanzlerkandidatur Vorbehalte gegen Frau Merkel?

Ihr Stil, zum Beispiel die Einberufung der Regionalkonferenzen, als sie noch Generalsekretärin war, wurde in der CDU von vielen als neu und attraktiv, aber auch als ungewohnt empfunden. Manch einer hatte eine gewisse Skepsis, ob sie mit diesem relativ kurzen Vorlauf in Deutschland politische Verantwortung übernehmen und Parteivorsitzende und dann Kanzlerkandidatin werden kann. Aber das hat sie ja dann 2005 erfolgreich bewiesen. Sie hat – auch als erste Frau im Kanzleramt – eine Ära geprägt, wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl.

Warum wurden eigentlich Sie 2002 Kanzlerkandidat der Union - und nicht Frau Merkel?

Nun, ich war nach sechs Jahren als Leiter der Bayerischen Staatskanzlei und fünf Jahren als Innenminister seit 1993 ein anerkannter Ministerpräsident mit politischen Erfolgen, der mit seinen anderen Ministerpräsidentenkollegen von der CDU natürlich ständig im Austausch war. Ausserdem war ich seit 1999 CSU-Vorsitzender. CDU-Ministerpräsidenten wie Erwin Teufel in Baden-Württemberg, Bernhard Vogel in Thüringen, Roland Koch, der damalige hessische Ministerpräsident, Peter Müller im Saarland, Christian Wulff in Niedersachsen oder auch Ole von Beust in Hamburg, die zum Teil ja auch einflussreiche CDU-Landesvorsitzende waren, hatten sich im Vorfeld der Entscheidung für mich ausgesprochen.

Merkel überlässt Stoiber die Kanzlerkandidatur beim Frühstück in Wolfratshausen

Wie hat Frau Merkel das aufgenommen?

Angela Merkel hat eingesehen, dass sie in dieser Frage - anders als bei ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden im Jahr 2000 - die CDU in ihrer Gesamtheit nicht hinter sich bekommt und die Kanzlerkandidatur deshalb für sie zu früh kommt. Das war der Grund, warum sie mir im Januar 2002 beim Frühstück in Wolfratshausen dann die Kanzlerkandidatur überlassen hat.

Wollten die Herren Ministerpräsidenten vielleicht einfach keine Frau als Kanzlerin?

Nein, das glaube ich nicht. Es war vielleicht noch keine absolute Selbstverständlichkeit wie heute, aber wir hatten mit der Gleichberechtigung auch schon vor 20 Jahren eine weite Strecke zurückgelegt.

Hat Angela Merkel die Kandidatur vielleicht Ihnen überlassen, um nicht selbst Schaden zu nehmen im Falle einer Niederlage?

Nein. Sie hat mehrfach betont, auch damals beim Frühstück in Wolfratshausen, dass sie sich das zutraut und die Kanzlerkandidatur auch gerne übernommen hätte.

Das nehmen Sie ihr ab?

Ja. Letztlich fehlte es dafür an der Unterstützung in der CDU.

Und diese Unterstützung hatten Sie?

Ja. Ich hatte ja auch einen viel längeren Vorlauf: Schon seit meiner Zeit als Generalsekretär ab 1978 war ich häufig Gast und Redner auf CDU-Veranstaltungen, Parteitagen und bei Landtagswahlkämpfen in ganz Deutschland. Daher kannten mich die Entscheidungsträger in der CDU natürlich gut.

Hat sich Frau Merkel als Gegenleistung nicht einen Platz im Kabinett im Falle des Wahlsiegs ausbedungen?

Nein, das war nie ein Thema. Ich hatte mit ihrer Kenntnis meine Mannschaft zusammengestellt, zum Beispiel Wolfgang Schäuble als künftiger Aussenminister, Lothar Späth als grosser Wirtschaftsminister, Friedrich Merz als Finanzminister oder Christian Wulff als Sozialminister. Angela Merkel hat immer klargemacht, dass sie nicht in ein Kabinett Stoiber gehen, sondern Fraktionsvorsitzende der CDU als Regierungspartei werden wollte.

Haben Sie auch darüber mit ihr gesprochen, was im Falle einer Niederlage passieren würde?

Bis zum Samstag vor der Wahl hatten wir nicht darüber gesprochen. Erst an diesem Tag hat mir Angela Merkel in der Bayerischen Staatskanzlei, nach einem gemeinsamen Besuch der Eröffnung der Wiesn 2002, von ihren Überlegungen erzählt: Wenn die Wahl verloren gehen sollte, würde sie zur Bündelung der Kräfte neben dem Parteivorsitz auch den Fraktionsvorsitz beanspruchen. Nach der Wahl wurde diese Personalie in einer Sitzung im Bundesvorstand der CDU, an der ich teilgenommen habe, erörtert. Dort hat Angela Merkel dann auch erklärt, dass sie diese Position jetzt für sich beansprucht.

Stoiber: "Das hat Merz tief getroffen"

Wie hat Friedrich Merz diese Erklärung aufgenommen, der amtierender Fraktionsvorsitzender war?

Das hat ihn tief getroffen. Friedrich Merz ist zuvor als glanzvoller Fraktionsvorsitzender mit leidenschaftlichen, begeisternden Reden im Bundestag zu einem Aushängeschild der Union geworden. Er hat mir wegen meiner Unterstützung für Angela Merkel als Fraktionsvorsitzende seine grosse Enttäuschung ausgedrückt. Diese Enttäuschung habe ich natürlich verstanden. Aber nachdem mich Angela Merkel im Wahlkampf so loyal unterstützt hatte, hätte ich ihren Wunsch kaum ablehnen können, ohne eine ernsthafte Krise zwischen CDU und CSU hervorzurufen. Aber das ist Geschichte. Heute verstehen sich Friedrich Merz und ich wieder sehr gut.

War das der vielleicht noch wichtigere Schachzug aus Sicht Merkels, um den Konkurrenten Merz auszubremsen?

Eine Doppelspitze mit ihr als Parteivorsitzender und Merz als Oppositionsführer im Bundestag hätte auf Dauer zu Reibungsverlusten geführt. Dessen war sie sich natürlich bewusst. Ich konnte ihr Argument einer Bündelung der Kräfte nachvollziehen. Als Partei- und Fraktionsvorsitzende ist sie dann auch in das Amt der Kanzlerkandidatin für 2005 hineingewachsen.

Und was passierte mit Merz?

Er wurde quasi erster stellvertretender Vorsitzender der Fraktion, mit einer herausgehobenen Verantwortung. Das ging aber nur eine gewisse Zeit gut. 2004 hat er dieses Amt zurückgegeben. 2005 ist er zwar nochmal in den Bundestag gewählt worden, hat sich aber politisch immer mehr zurückgezogen und trat dann 2009 nicht mehr zur Wahl an.

Was zeichnet Merkel aus?

Ich kenne keinen Politiker oder keine Politikerin, die so unprätentiös ist wie Angela Merkel – sie macht wenig Aufheben um ihre Person, es gibt kein Pathos. Auch jetzt, wo ihre letzten Termine als Bundeskanzlerin anstehen, hält sie alles nüchtern und unsentimental. Sie ist eine echte Dienerin für das Land.

Und darüber hinaus?

Sie ist absolut integer. In Europa ist sie in eine Leader-Position hineingewachsen. Ohne sie wäre Deutschland in Europa nicht dort, wo es heute steht.

Stoiber: "Die Mitte der Gesellschaft hat sich auch verändert"

Ein Vorwurf an Merkel lautet, sie habe die CDU entkernt, man wisse gar nicht mehr, für welche Positionen die Christdemokraten stehen. Sehen Sie das auch so?

Ich kenne den Vorwurf. Aber man muss dabei bedenken: Die Mitte der Gesellschaft hat sich auch verändert. Die Deutschen sind toleranter und individueller geworden. Eine Partei kann nur dann Volkspartei sein, wenn sie Ansprechpartnerin aller Schichten ist und gesellschaftliche Entwicklungen mitgeht. Wichtig ist nur, seine Wurzeln nicht zu vergessen.

Gilt das auch für den Umgang mit Flüchtlingen?

Für viele in der Union gilt bis heute die Devise von Helmut Kohl und Franz Josef Strauss, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist. Aber auch hier haben sich innerparteilich und vor allem gesellschaftlich die Gewichte deutlich verschoben. In der Flüchtlingskrise wurde dieser Riss in der Gesellschaft und damit auch in der Union deutlich. Der besteht jetzt zwar nicht mehr, aber das Problem ist nicht gelöst und wird durch die schockierenden Entwicklungen in Afghanistan eher noch verstärkt. Klar ist aber, dass die Flüchtlingspolitik nur europäisch gelöst werden kann. Leider haben wir es nicht geschafft, hier eine einheitliche EU-Linie zu erreichen, weil viele Länder - was manche nicht verstehen - nicht so betroffen sind wie Deutschland.

Gibt es sonst etwas, was Sie Frau Merkel vorwerfen?

Vorwürfe nicht, aber es bleiben grosse Herausforderungen: Deutschland braucht jetzt, wie Armin Laschet zurecht gesagt hat, ein Modernisierungsjahrzehnt, in dem wir die Folgen der Coronakrise wirtschaftlich und gesellschaftlich überwinden, Deutschland digital auf Vordermann bringen und vor allem unsere Industriegesellschaft klimaneutral umgestalten müssen.

Wem trauen Sie am ehesten zu, das Erbe Merkels als nächster Kanzler oder Kanzlerin anzutreten?

Ich traue Armin Laschet zu, dass er die Wahl gewinnt.

Auch das Erbe Merkels?

Ja, das traue ich ihm zu – in seiner Art. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten. 2017 hätte ich nicht so ohne weiteres erwartet, dass es ihm gelingt, die populäre SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu besiegen. Er regiert das grösste Bundesland Nordrhein-Westfalen jetzt seit fast vier Jahren mit grossem Erfolg. Obwohl er eine komplizierte Koalition mit nur einer Stimme Mehrheit anführt, liest man wenig über Streitigkeiten zwischen der CDU und der FDP. Ich bin überzeugt, dass er alle Chancen und Fähigkeiten hat, mit seiner Art dieses Land zu führen.

Wenn man in 40 oder 50 Jahren zurückblickt, was wird als Vermächtnis der Ära Merkel bleiben?

Sie hat ihre grössten Spuren als Krisenkanzlerin hinterlassen: Überwindung der Finanz- und Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise. Insgesamt war die Ära Merkel für die Deutschen eine gute und erfolgreiche Zeit.

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