Die Frage nach den Urhebern des Terroranschlags von Ankara beschäftigt nicht nur die Türkei. Neben dem Islamischen Staat wird nicht nur die PKK verdächtigt, sondern sogar die Regierung Erdogan selbst. Doch es gibt noch eine weitere düstere Vermutung.
Es war einer der schlimmsten Anschläge in der Geschichte der Türkei: In der Hauptstadt Ankara detonierten am Samstag bei einer von der pro-kurdischen HDP und regierungskritischen Gewerkschaften organisierten Demonstration zwei Sprengsätze. Nach offiziellen Angaben starben fast 100 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Noch am Tag des Anschlags nannte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mögliche Urheber: den IS, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen.
Der Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, gab wiederum der Regierung um Präsidenten Recep Erdogan eine Mitschuld an dem Anschlag. Bei einer Trauerveranstaltung für die Opfer rief er in Richtung Erdogans und seiner islamisch-konservativen AKP: "An Euren Händen klebt Blut." Ein HPD-Funktionär äusserte zudem gegenüber der Nachrichtenagentur dpa den Verdacht, die politische Führung habe den Anschlag "entweder organisiert oder nicht verhindert".
Welche Rolle spielt der "tiefe Staat"?
Doch wie wahrscheinlich ist das? Und wie wahrscheinlich ist es, dass die PKK einen Anschlag auf eine pro-kurdische Veranstaltung verübt? Was spricht für den IS als Urheber des Anschlags?
Unter Türkei-Fachleuten wird die These einer Schuld der Regierung mit Vorsicht diskutiert. "Von einer direkten Verantwortung der Regierungspartei zu sprechen, dass sie den Anschlag geplant hat, so weit würde ich nicht gehen", sagte Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in den Tagesthemen. Eine Mitverantwortung der Geheimdienste wollte er aber nicht ausschliessen: "Die Sicherheitsapparate sind nicht gleichzusetzen mit der Regierung. Wir haben in der Türkei vier Geheimdienste, die in der Vergangenheit oft mehr gegen- als miteinander gearbeitet haben."
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Überlegungen des Türkei-Experten Kristian Brakel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). "Es ist nicht ausgeschlossen, dass nationalistische Kräfte innerhalb des sogenannten tiefen Staates in der Türkei, zu denen auch die rivalisierenden Geheimdienste gehören, einen solchen Anschlag verüben könnten", sagt er. Sie hätten ein Interesse daran, dass der Konflikt mit der PKK bestehen bleibe. Dass die PKK am Samstag verkündete, dass sie - unter bestimmten Bedingungen - bis zur Wahl auf Anschläge auf den Staat verzichten wolle, sei nicht unbedingt im Sinne dieser Kräfte.
Erdogan könnte vom Unfrieden profitieren
Geht man von den Geheimdiensten und anderen im Verborgenen operierenden Kräften weg und hin zum Präsidenten des Landes, ist mehr von indirekter Verantwortung die Rede. Nicht nur der deutsche Grünen-Politiker
Özdemir: Erdogan profitiert vom Chaos
Erdogan wolle, "dass die Lage eskaliert und die Menschen auf eine autoritäre Herrschaft setzen", sagte Özdemir der Funke-Mediengruppe. Dass Erdogan also von Chaos und Unfrieden profitiert, um sich selbst als Garant für Stabilität darstellen zu können - mit Blick auf die Parlamentswahlen am 1. November.
Dass Erdogan der Anschlag zynischerweise in die Hände spielen könnte, dieser Meinung ist auch Günter Seufert. Die Regierungspartei setze seit geraumer Zeit auf eine Verschärfung des Konfliktes mit den Kurden. "Sie versucht, die pro-kurdische HDP mit der Terrororganisation PKK gleichzusetzen und sie dadurch unter die Zehn-Prozent-Hürde (…) zu drücken." Die HDP hatte bei den Wahlen im Juli 13,1 Prozent der Stimmen geholt und damit eine Alleinregierung der AKP mitverhindert. Weil Erdogan keine Regierung bilden konnte, gibt es nun Neuwahlen.
Krude These: PKK verübte den Anschlag
Die Wahlen im Juli fanden in einer Phase statt, in der der Konflikt mit der PKK gerade eskalierte. Hunderte Menschen sollen allein seit dieser Zeit in dem Konflikt ihr Leben verloren haben. Vor allem in einigen regierungsfreundlichen Zeitungen wird nun die These diskutiert, dass die PKK selbst den Anschlag in Ankara verübt habe. Die Zeitung "Yeni Akit" schreibt etwa, die HDP solle als Opfer dargestellt werden, damit sie bei der Wahl am 1. November mehr Stimmen erhalte. Viele Beobachter halten das jedoch für unwahrscheinlich. Auf der Demonstration seien überwiegend linke und pro-kurdische Teilnehmer gewesen, sagt Kristian Brakel. Es sei schwierig, sich vorzustellen, dass die PKK befehle, gerade auf diese Demonstration einen Anschlag zu verüben.
Offenbar steht die PKK bei der Regierung aber weiterhin unter Verdacht. Ministerpräsident Davutoglu wiederholte im türkischen Fernsehen, dass die PKK und die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C weiter als mögliche Urheber in Betracht kämen.
Anschlag mit Handschrift des IS
Angesichts der Vorgehensweise bei dem Attentat werde aber vor allem gegen den IS ermittelt. Offenbar gibt es Parallelen zu dem Anschlag in Suruc im Juli, als die Bombe eines Selbstmordattentäters 33 pro-kurdische Aktivisten tötete. Die verwendeten Sprengsätze sollen die gleichen wie die in Ankara gewesen sein.
Der Islamische Staat, so meinen viele Beobachter, hätte auch ein starkes Motiv: Erdogans härteres Vorgehen gegen den IS nach dem Anschlag von Suruc, für den seine Regierung ebenfalls die Terrormiliz verantwortlich macht. Seitdem fliegen US-Kampfjets von türkischem Boden aus Angriffe gegen die Terror-Organisation und es gab Verhaftungswellen gegen mutmassliche IS-Kämpfer. Der IS, sagt Kristian Brakel, habe zudem ebenfalls ein Interesse an einer Fortführung des türkisch-kurdischen Konfliktes: "So werden einige PKK-Kräfte in der Türkei gebunden und können nicht im Kampf gegen den IS eingesetzt werden."
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