An mehreren deutschen Universitäten haben sich antisemitische Vorfälle ereignet: Ein jüdischer Student ist brutal angegriffen worden, bei Sitzblockaden sind antisemitische Parolen zu hören.
Woher der Antisemitismus an Universitäten kommt und wie gefährlich er ist, erklärt Kim Robin Stoller im Interview.
Frau Stoller, haben die deutschen Unis ein Antisemitismus-Problem?
Kim Robin Stoller: Ja, eindeutig. Und zwar in zwei Formen. Zum einen als Problem für jüdische und israelische Studierende, die sich zum Teil nicht mehr an die Uni trauen oder sich dort unwohl fühlen, weil die Stimmung sehr angeheizt ist und sie das auch als Stimmung gegen sich wahrnehmen. Und zum Zweiten, weil natürlich antisemitische Einstellungen auch mit antidemokratischen Einstellungen und häufig auch mit anderen diskriminierenden Einstellungen einhergehen. Es ist ein gesellschaftliches Problem für die Zukunft, wenn die entsprechenden gebildeten Leute, die zentrale Funktionen in der Gesellschaft zukünftig übernehmen werden, antisemitisch ausgerichtet sind.
Wo sind jüdische Studierende in Sorge?
In mehreren Fällen wurde uns berichtet, dass sich jüdische Studierende etwa in Berlin oder in Nordrhein-Westfalen nicht mehr an die Universitäten trauen oder zu erschöpft sind von den Auseinandersetzungen, dass sie das Semester nicht studieren können oder aus Angst um ihre Sicherheit jüdische Symbole nicht mehr offen tragen.
Kim Robin Stoller: "Neue Qualität" des Judenhasses in Deutschland
Gab es das schon mal oder ist das seit Ende der Naziherrschaft eine neue Qualität an Judenhass?
Ja, das ist wohl eine neue Qualität, die es seit dem Ende der Naziherrschaft noch nicht gegeben hat. Ein qualitativer Vergleich ist jedoch schwierig, da es beispielsweise in anderen Hochphasen antisemitischer Mobilisierung, wie während der sogenannten "Zweiten Intifada" Anfang der 2000er-Jahre, noch keine Meldestellen für Antisemitismus wie heute gab und auch die sozialen Medien noch nicht existierten.
Laut einer Studie vom Bundesforschungsministerium sind antisemitische Einstellungen unter Studierenden nicht häufiger vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Warum stehen Hochschulen trotzdem so im Fokus?
Wenn die zukünftige Elite Deutschlands antisemitische Parolen ruft oder an den Universitäten verbreitet, dann sendet das ein ganz anderes Signal, als wenn die Teile der Gesellschaft, von denen die politische Elite weiter entfernt ist, das Gleiche tut. Manche denken, dass Bildung und Antisemitismus konträr zueinander verlaufen, dass also gelten würde: Je gebildeter die Leute sind, desto weniger antisemitisch oder rassistisch sind sie. Wissenschaftliche Studien und die Geschichte zeigen: Das ist mitnichten der Fall. Man kann eher sagen: Es gibt spezifische Formen eines gebildeten Antisemitismus.
Aus Angst vor antiisraelischen Aktivisten knicken Universitätsleitungen ein
Beunruhigt Sie das?
Das ist eine sehr besorgniserregende Situation. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf Entscheidungen in der Zukunft. Bereits heute zeigt sich eine teilweise völlige Verkennung der Realität durch Teile der intellektuellen Elite oder Universitätsleitungen. Aus Angst vor Problemen mit antiisraelischen Aktivist*innen oder aus eigenen Überzeugungen knicken diese ein. Dies trägt dazu bei, dass sich an den Hochschulen ein Klima der Feindseligkeit gegen Israel, gegen Israelis und gegen Jüdinnen und Juden ausbreitet.
In den USA haben die Proteste schon Mitte April begonnen. Von der renommierten Columbia University in New York aus haben sie sich dann auch immer weiter im Land ausgeweitet. Kommt der Trend hierzulande aus den USA?
Hier muss man zwischen dem Trend auf einer intellektuellen, ideologischen Ebene und dem auf einer organisatorischen Ebene unterscheiden. Es gibt organisatorisch verschiedene Strukturen, die teilweise auch mit den USA verknüpft sind. Das betrifft sowohl das islamistische und linksautoritäre Spektrum als auch das palästinensisch-arabische und das rechtsextreme Spektrum. Hier sehen wir eine internationale Verknüpfung. Das spiegelt sich auch ideologisch wider: Bestimmte Sprüche, Denkformen, Erklärungsansätze der Welt werden übernommen.
Wer ist dabei mit wem verknüpft?
Es besteht ein internationaler Austausch von antiisraelischen Aktivist*innen. Redewendungen, Sprechchören, Symbole wie das rote Hamas-Dreieck und Kampagnenforderungen an Universitäten wie die Beendigung der Zusammenarbeit mit Israelis und israelischen Universitäten werden übernommen. Ob die Finanzströme zur Unterstützung der Proteste auch in nennenswertem Umfang nach Deutschland fliessen und die Proteste massgeblich beeinflussen, können wir nicht abschliessend beurteilen.
Kann man genauer sagen, aus welcher Richtung der Antisemitismus an den deutschen Unis kommt?
Die organisierten Strukturen sind linksautoritär, kombiniert mit teilweise palästinensischen, nationalistischen, türkisch-nationalistischen oder islamistischen Strukturen, die der Hamas-Muslim-Bruderschaft nahestehen.
Also gehen Linksradikale und Islamisten Hand in Hand?
Teile der autoritären Linken suchen die Nähe zu Islamisten. Das gab es in Deutschland schon seit der zweiten Intifada und den Anschlägen vom 11. September bis vor etwa zehn Jahren, war aber bis zum 7. Oktober letzten Jahres nicht mehr so verbreitet und nimmt jetzt auch in Deutschland wieder zu. Die Nähe besteht im Antisemitismus, in der gemeinsamen Feindschaft gegen Israel und die USA, in der Feindschaft gegen die Rechte des Individuums, gegen bestimmte westliche Werte und gegen ein universelles Eintreten für menschliche Emanzipation.
Welche Theorien spielen dabei eine Rolle?
Auf einem intellektuellen Niveau geht es um ideologische Fragmente, beispielsweise bestimmte Interpretationen des sogenannten Postkolonialismus. Dabei wird Israel als eins der letzten kolonialen Gebilde angesehen, gegen das sich sozusagen alle vereinigen müssten.
Was Postkolonialismus und Israelhass miteinander zu tun haben
Was hat Israel mit Postkolonialismus zu tun?
Postkolonialismus ist eine Theorie, die sich mit den Auswirkungen und Nachwirkungen des Kolonialismus beschäftigt, was zunächst einmal richtig und wichtig ist. Allerdings wird Israel oft fälschlicherweise als koloniales oder gar letztes koloniales Gebilde gesehen, gegen das sich alle zusammenschliessen müssen. Diese Sichtweise führt dazu, dass Israel als Unterdrücker dargestellt wird. Dass in vielen arabischen Staaten Jüdinnen und Juden vertrieben oder zur Auswanderung gedrängt wurden und dass die Arabische Liga schon bei ihrer Gründung die Existenz Israels nicht anerkannte und die Vernichtung Israels anstrebte, wird oft nicht kritisch erwähnt.
Welche weiteren Denkfragmente gibt es?
Eine bestimmte Auslegung der Intersektionalitätstheorie spielt eine Rolle. Die Intersektionalitätstheorie besagt zunächst richtigerweise, dass verschiedene Herrschafts- und Diskriminierungsformen miteinander verschränkt sind und eine Person auch von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sein kann, die sich miteinander verbinden.
Eine falsche Auslegung sagt aber, dass jegliche Thematisierung von Diskriminierung – und hier kommt der Antisemitismus ins Spiel – auch immer eine anti-israelische Ausrichtung haben muss. Dann spielen noch bestimmte Interpretationen einer queeren oder queerfeministischen Theorieauslegung eine Rolle. Dabei werden beispielsweise die Hisbollah oder Hamas als Teil einer globalen Aufstandsbewegung des globalen Südens gegen die Dominanz des Westens angesehen. Die Diskriminierungspraktiken der jeweiligen islamistischen Gruppierung werden dabei aber völlig verdrängt.
Darum protestieren LGBTQ-Aktivisten für die Hamas
Die Hamas bestraft Homosexuelle mit der Todesstrafe und verbietet Mädchen Schulbildung. Wie können Feministinnen und LGBTQ-Aktivisten das ignorieren?
Offensichtlich findet bei einem Teil der Feminist*innen und LGBTQ-Aktivist*innen, die Islamist*innen verteidigen oder sich mit ihnen solidarisieren, eine Verdrängung, selektive Wahrnehmung und Abschottung von der Realität statt. Indem die eigene Gesellschaft - der "Westen" einschliesslich Israels - für einen Grossteil des Elends in der Welt verantwortlich gemacht wird und jeder Widerstand gegen den "Westen" als legitim angesehen wird, kann Sexismus im "Westen" kritisiert und die Ermordung von Homosexuellen und die Unterdrückung von Frauen und LGBTQ* im "Orient" als faktischer Nebenwiderspruch betrachtet oder geleugnet werden.
Warum äussert sich der Antisemitismus gerade an den Hochschulen so radikal?
Vermutlich, weil die Leute denken, dass sie für das Gute in der Welt eintreten und dafür sehr viel Zeit und Energie verwenden. Ich wäre aber vorsichtig, von einer Ausnahmesituation an Hochschulen zu sprechen. Auch Leute, die nicht an der Universität sind, wie Islamisten oder Neonazis, greifen Jüdinnen und Juden an. Seit dem Angriff der Hamas haben sich antisemitische Vorfälle vervielfacht. Was jedoch relevant ist: Menschen an den Hochschulen verfügen oft über Organisations- und intellektuelle Erfahrungen, die sie auch ausserhalb der Universitäten nutzen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass nicht alle Sachen, die an den Unis passieren, aus den Unis kommen.
Uni-Proteste: Nur ein Teil der Demonstranten studiert auch wirklich
Was heisst das?
Wir müssen die Strukturen in Deutschland im Auge behalten, die auch zum Teil von aussen die entsprechenden Dynamiken an den Universitäten mitbestimmen. Bei der Besetzung an der Humboldt-Universität in Berlin zum Beispiel gehen die Behörden davon aus, dass nur ein Drittel der Beteiligten Studierende der Universität waren. Man sollte die Leute nicht nur als Studierende behandeln.
Ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen Antisemitismus und Israelkritik?
Kritik ist notwendig, um gesellschaftliche Verhältnisse auch ins Positive zu verändern. Das, was aber häufig als Israelkritik daherkommt, ist oft einfach Antisemitismus, der sich über eine scheinbare Legitimierung als Kritik an Israel artikuliert.
Wie reagieren denn die Universitäten?
Die Universitäten haben sehr unterschiedlich reagiert. Es gab Universitäten, die sofort bei Platzbesetzungen geräumt haben – auch, weil es im Vorfeld schon zu physischen Übergriffen gekommen ist aus dem ideologischen Spektrum der Besetzenden. Es gab aber auch Universitäten, die die Protestierenden und die Besetzer haben gewähren lassen. Das hatte zur Folge, dass jüdische und israelische Studierende keinen Platz mehr an den Unis hatten und die entsprechenden Gebäude, die besetzt wurden, auch mit Pro-Hamas-Statements verwüstet wurden. Universitäten müssen jüdischen und israelischen Studierenden ermöglichen, dort unversehrt und ohne Angst studieren zu können. Alles, was in irgendeiner Art und Weise dem widerspricht, muss unterbunden werden. Alle Studierenden sollten sich klar gegen Antisemitismus positionieren.
Die TU-Präsidentin hat antisemitische Bilder geliked und es gab einen Brief zahlreicher Dozenten, in dem sie die Demos gutgeheissen haben. Was sagt das über Antisemitismus an den betreffenden Hochschulen aus?
Wenn eine Universitätspräsidentin antisemitische Bilder liked oder Dozent*innen israelfeindliche Demonstrationen an Universitäten gutheissen, zeigt dies, dass Antisemitismus kein Randphänomen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft und der intellektuellen Elite zu Hause ist. Auch in anderen historischen Epochen waren Universitäten nicht frei von Antisemitismus. Ganz im Gegenteil.
Fühlen sich die Protestler bestärkt in ihren radikalen Ansichten, wenn keine klare Reaktion von der Uni-Leitung kommt?
Ja, die Israelhass-Aktivist*innen fühlen sich durch ein solches Verhalten gestärkt. Appeasement scheint sie nicht zu besänftigen. Das zeigen Beispiele wie an der Humboldt-Universität, wo die Präsidentin die Besetzer*innen erst spät räumen liess. Trotz ihrer Beschwichtigungsversuche wurde sie als Feindin wahrgenommen und die Universitätsgebäude verwüstet und mit Hamas-Propaganda beschmiert.
Rechnen Sie in Zukunft noch weiter mit anti-israelischen Aktionen?
Die Prognose ist sehr stark abhängig davon, wie sich die internationale Weltlage entwickelt, etwa, ob eine militärische Auseinandersetzung weiter anhält und wie schnell es Israel gelingt, die Hamas militärisch niederzuringen. Das sind Entwicklungen, die erstmal ausserhalb von Deutschland liegen. Wenn der Konflikt anhält, wird es ein weiteres Protest- und Besetzungsgeschehen an den Universitäten und dementsprechend auch viel Antisemitismus geben.
Über die Gesprächspartnerin
- Kim Robin Stoller ist Expertin für Antisemitismus und arbeitet am International Institute for Education and Research on Antisemitism (IIBSA).
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