Seine Äusserungen zum Angriff der Hamas auf Israel und zum Krieg in der Region haben für einen Eklat gesorgt: FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bezeichnete den UN-Generalsekretär Antonio Guterres als "für sein Amt ungeeignet", andere forderten ihn zum Rücktritt auf. Worum sich die Kritik dreht und wie angeschlagen der Generalsekretär wirklich ist.
Die Debatte ist aufgeladen, Rücktrittsforderungen sind bereits laut geworden: "Guterres ist für sein Amt ungeeignet", kritisierte jüngst die Verteidigungspolitikerin
Kritik kommt nicht nur von der FDP. Auch Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, fand im Sender "Welt TV" deutliche Worte über den UN-Generalsekretär: "Ich finde es wirklich sehr schwer erträglich, dass der UN-Generalsekretär abermals den Eindruck erweckt, er würde hier einseitig Partei ergreifen für die Terroristen und für diejenigen, die verantwortlich sind für diesen Terrorangriff."
Glaubwürdigkeit erschüttert?
Worum geht es überhaupt? Der scharfen Kritik vorausgegangen sind mehrere Äusserungen des UN-Generalsekretärs nach dem Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober. Er hatte die Angriffe zwar deutlich verurteilt, aber darauf hingewiesen, dass sich der Hamas-Angriff "nicht im luftleeren Raum" ereignet habe. Die Palästinenser litten seit 56 Jahren unter "erstickender Besatzung", so Guterres.
Ebenso hatte er gesagt, die Tötung von Zivilisten bei den Kampfeinsätzen des israelischen Militärs im Gazastreifen sei in seiner Amtszeit beispiellos. Roth (SPD) sieht durch solche Äusserungen die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen angekratzt.
"Das hat abermals dazu beigetragen, dass insbesondere hier in Israel die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen erschüttert ist. Das tut mir sehr weh. Und ich bedauere das auch sehr, weil wir gerade jetzt auch eine internationale Organisation brauchen, eine internationale Gemeinschaft brauchen, die geschlossen steht im Kampf gegen den Terror", sagte der SPD-Politiker.
Viele Tote auch in anderen Kriegen
Strack-Zimmermann warf dem UN-Generalsekretär vor, Antidemokraten das Wort zu reden, die Gräuel der Kriege in der Ukraine und in Syrien zu unterschlagen und die völkerrechtswidrigen Angriffe auf diese beiden Länder mit dem legitimen Selbstverteidigungsrecht Israels gleichzusetzen.
Politikwissenschaftler Steffen Hagemann hat die Debatte von Beginn an beobachtet. Er sagt: "Ein Kritikpunkt zielt darauf ab, dass Guterres Terror relativiert. Das sehe ich allerdings nicht so. Nicht jede Kontextualisierung ist eine Relativierung." Der andere Kritikpunkt sei durchaus berechtigter.
"Guterres ist seit 2017 im Amt – in seiner Amtszeit gab es auch den Bürgerkrieg in Syrien, den Ukraine-Krieg und den Jemen-Krieg, wo jeweils auch sehr viele Zivilisten getötet wurden", erinnert der Experte.
Israel besonders hervorgehoben
Laut Zahlen des UNHCR sind im Jemen knapp 10.000 Zivilisten zwischen 2018 und 2022 ums Leben gekommen. Insgesamt sind die Opferzahlen seit Kriegsbeginn dreistellig, ebenso im Syrienkrieg. Hier sollen laut Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte allein im Jahr 2017 etwa 39.000 Menschen getötet worden sein – darunter mehr als ein Viertel Zivilisten. Die Zahl der zivilen Opfer in der Ukraine seit Kriegsausbruch 2022 wird mit knapp 10.000 angegeben.
Für den Gazastreifen wird derzeit offiziell eine Zahl von 14.800 Toten seit dem 7. Oktober genannt. Unabhängig überprüfen lassen sich all diese Zahlen derzeit jedoch nicht.
Hagemann meint: Guterres habe Israel durch seine Formulierung eine besondere und herausgehobene Rolle zugeschrieben. "Es geht hier auch um das Verhältnis insgesamt zwischen den Vereinten Nationen und Israel", sagt er.
Was im Hintergrund brodelt
Israel habe sich von den Vereinten Nationen in der Vergangenheit bereits häufig unfair behandelt gefühlt. "Israel kritisiert dabei, dass es in der Generalversammlung praktisch eine automatische, kritische Mehrheit gegen Israel gibt und dass sich die Generalversammlung eben auch besonders häufig mit Israel beschäftigt, viel häufiger als mit anderen Staaten, mit autoritären Staaten beispielsweise, die Völkerrechtsverstösse begehen", erklärt Hagemann. Diese Beziehung spiele im Hintergrund eine Rolle.
"Man muss aber sagen, dass das vor allem für die Generalversammlung gilt. Im Sicherheitsrat, dem wichtigeren Gremium der Vereinten Nationen, ist Israel wiederum in einer vorteilhaften Position – es hat die USA als Schutzmacht, die mit ihrem Vetorecht Resolutionen auch abwehren kann", stellt der Experte klar.
Zu den Spannungen zwischen Israel und Guterres trägt bei, dass das humanitäre Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) jüngst warnte, es sei aufgrund der israelischen Treibstoffblockade nur wenige Stunden davon entfernt, seine Operationen in Gaza einzustellen – einschliesslich der Bereitstellung von Krankenhausversorgung. Israel kündigte ausserdem an, UN-Beamte nicht mehr nach Israel einreisen zu lassen, um den Vereinten Nationen eine Lektion zu erteilen.
Rücktritt von Guterres gefordert
Israel selbst hatte besonders empfindlich auf die Äusserungen von Guterres reagiert. Israels Aussenminister Eli Cohen sagte ein Treffen mit Guterres ab und kritisierte bei einer Pressekonferenz in Genf: "Guterres verdient es nicht, an der Spitze der Vereinten Nationen zu stehen. Er hat noch keinerlei Friedensprozess in der Nahost-Region gefördert." Der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen hatte sogar den Rücktritt gefordert.
Guterres selbst sprach von "verzerrter Darstellung" und zeigte sich schockiert über die Interpretation seiner Aussagen. Er habe die Terroranschläge der Hamas in keiner Form gerechtfertigt, sondern die "entsetzlichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas" unmissverständlich verurteilt. Nichts rechtfertige das Töten von Zivilisten. Er habe vielmehr von den "Missständen des palästinensischen Volkes" gesprochen, so der UN-Generalsekretär.
Guterres betonte, er wolle die Angelegenheit klarstellen vor allem "aus Respekt vor den Opfern und ihren Familien." Israel erwähnte er in seiner Stellungnahme jedoch nicht explizit.
Hagemann erinnert grundsätzlich: "Es gibt sehr unterschiedliche Positionen und Wahrnehmungen dieses Konflikts in der Weltgemeinschaft." An vielen Stellen werde der Terror der Hamas verurteilt, aber es gebe auch viel Sympathie für die palästinensische Seite und die Forderung, den Palästinensern ihren eigenen Staat zuzugestehen.
Israel-kritische Mehrheit
"Es gibt in den Vereinten Nationen eine Mehrheit, die sich sehr kritisch gegenüber Israel äussert. Dazu gehören viele Länder aus dem globalen Süden", sagt der Experte. Beispiele sind Argentinien, Peru, Bolivien und Mexiko. Sie verurteilen die israelischen Luftangriffe im Gazastreifen und haben teilweise ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen.
Dass das Ansehen von Guterres gerade stark leidet, glaubt Hagemann daher nicht. "Wir müssen ja sehen, dass er hier auch die Position der Vereinten Nationen vertritt", erinnert er. Dazu gehöre es, die Geltung des Völkerrechts zu verteidigen, und zwar von allen Parteien. Auch der UN-Menschenrechtskommissar weise zum Beispiel darauf hin, dass es Verletzungen des Völkerrechts im Gaza-Krieg durch beide Seiten gibt.
Es sei die Aufgabe der Vereinten Nationen, beide Seiten dazu aufzurufen, das Völkerrecht einzuhalten. "Die UN setzen sich auch dafür ein, dass humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommt, und sie rufen Israel dazu auf, einen weiteren Grenzübergang zu öffnen", erinnert Hagemann.
Guterres als Projektionsfläche
Dass die Kritik an Guterres Einfluss auf die Haltung der Generalversammlung haben könnte, erwartet Hagemann nicht. "Ich glaube nicht, dass er durch seine Positionierung jetzt im Gaza-Krieg weltweit gesehen seine Position verschlechtert hat", sagt er.
Insgesamt sei es wichtig zu verstehen, wie kompliziert die Lage ist. "Die Vereinten Nationen waren Geburtshelferin Israels. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen stellte eine politische Legitimationsgrundlage für Israel dar, und 1949 wurde Israel schliesslich Mitglied der Vereinten Nationen", erinnert er.
Insbesondere aufgrund des Widerstands muslimischer Staaten und vieler Entwicklungsländer habe man aber gesehen, dass die Palästinenser auf der Agenda der Vereinten Nationen ein besonders starkes Gewicht bekommen hätten. "Es ist ein angespanntes Verhältnis zwischen Israel und den Vereinten Nationen. Und das wird jetzt teilweise auf Guterres als Generalsekretär projiziert", analysiert er.
Verwendete Quellen
- de.statista.com: "Jemen: Zivile Opfer durch bewaffnete Gewalt von 2018 bis 2022"
- de.statista.com: "Ukraine-Krieg: Tote und Verletzte in der ukrainischen Zivilbevölkerung laut Zählungen der UN"
- de.statista.com: "Israel / Palästinensische Autonomiegebiete: Anzahl der Todesopfer und Verletzten durch den Terrorangriff der Hamas gegen Israel und Gegenschläge seit dem 07. Oktober 2023"
- merkur.de: "39.000 Tote im Syrienkrieg im Jahr 2017"
Über den Experten
- Dr. Steffen Hagemann ist Politikwissenschaftler an der TU Kaiserslautern. Von 2018 bis 2022 leitete er das Büro Tel Aviv der Heinrich-Böll-Stiftung.
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