Um Muslime zu Ramadan zu grüssen, zeigte Antonio Rüdiger den Tauhid-Finger. Der rechtspopulistische Journalist Julian Reichelt unterstellte dem Fussball-Nationalspieler daraufhin, einen "Islamisten-Gruss" gezeigt zu haben.

Ein Interview

Der Islamwissenschaftler und Theologe Serdar Kurnaz ordnet die Geste im Interview mit unserer Redaktion ein.

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Herr Kurnaz, welche Bedeutung hat der "Tauhid"-Finger?

Serdar Kurnaz: "Tauhid" ist das Einssein Gottes. Die muslimische Tradition ist streng monotheistisch, indem man den Finger hebt, verweist man darauf, dass Gott das einzige göttliche Wesen ist, das existiert. Es ist ein religiöses Zeichen, das auch im Gebet verwendet wird. Die Mehrheit der Muslime, egal ob sunnitisch und schiitisch, verwendet das Zeichen.

Während der Gebete gibt es bestimmte Bewegungsabläufe. Während man sitzt, spricht man das Glaubensbekenntnis aus. Und währenddessen bezeugt man, dass es keine Gottheit ausser Gott gibt. In diesem Moment hebt man den Finger, um auf das Einssein Gottes hinzuweisen. Eigentlich ist der Finger nur ein religiöses Symbol.

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Unterschiedliche Verwendungen des "Tauhid"-Fingers

Antonio Rüdiger hat die Geste in einem Instagram-Post gezeigt, woraufhin der rechtspopulistische Journalist Julian Reichelt von einem Islamisten-Gruss gesprochen hat. Ist das nachvollziehbar?

Tatsächlich haben Islamisten in den letzten Jahrzehnten diese Bewegung für sich beansprucht. Das heisst aber bei Weitem nicht, dass es ein klares Zeichen für eine fundamentalistische Gesinnung ist, wenn man eine Muslima oder einen Muslim dabei beobachtet, wie sie oder er den Finger hebt.

Die Verwendung der Geste ist von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich. Je nachdem, in welcher Situation sich die Menschen befinden, wird diese Geste häufiger oder weniger verwendet. In meiner Umgebung, als ich noch ein kleines Kind war, hat sich diese Bewegung zum Beispiel nur auf das Gebet beschränkt.

In den letzten Jahren haben aber extremistische Gruppierungen die Bewegung genutzt, um ihre Haltung nach aussen hin klar und deutlich zu signalisieren. Wir sehen mittlerweile, dass muslimische Gruppen diese Geste oder auch den Ausspruch "Takbīr", was bedeutet, dass Gott der Grösste ist, wieder für sich selbst beanspruchen und versuchen, diese mit einer Art "Reclaiming" aus den Händen der Islamisten zurückzuholen.

Das sehe ich bei Antonio Rüdiger jetzt nicht unbedingt. Er schaut auf dem Foto relativ grimmig, was ein wenig verwirrt. Aber ich denke nicht, dass seine Geste im Sinne von Fundamentalismus gedeutet werden müsste. Das ist nicht der Fall.

Gab es eine Umdeutung des Tauhid-Fingers durch Extremisten?

Sie sagen, dass die einzige Herrschaft Gott gebührt. Sie deuten die Einheit Gottes als Herrschaft Gottes um. Sie wollen alles umsetzen, was Gott sagt, weshalb sie alle anderen Herrschafts- oder Regierungsformen negieren, die nicht auf Gott zurückgehen. Dabei gibt es schon eine Umdeutung, eine sehr extremistische Auslegung der Geste, im Sinne von "Nur Gott gebührt die Herrschaft". Das kommt durchaus vor.

In der muslimischen Tradition ist es oft nur ein Dankesausruf gegenüber Gott, wenn man den Finger hebt oder "Allahu akbar" - "Gott ist grösser" - ruft. Es ist ein Dank dafür, dass Gott jemandem geholfen hat. Oder ein Bittgebet, weil man dieses oder jenes geschafft hat. Oder ein Ausdruck der Freude und Dankbarkeit, weil etwas passiert ist.

Das wird von extremistischen Gruppierungen so umgedeutet, dass sie sich gegenüber anderen Systemen durchsetzen und eigentlich nur das gültig ist, was sie für richtig halten. Sie legen es so aus, dass sie eins zu eins umsetzen, was Gott sagt. Insofern gibt es schon eine Neudeutung seitens der Fundamentalisten.

"Es muss eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung geben."

Islamwissenschaftler Prof. Serdar Kurnaz über extremistische Gruppierungen

Der von Ihnen erwähnte Ausruf "Allahu akbar" wurde in den vergangenen Jahren immer wieder von Terroristen verwendet und löst in westlichen Gesellschaften teilweise Panik aus. Was kann man dagegen tun?

Ich finde es persönlich schwierig, wenn man nicht kontextualisiert. Ein Ausspruch wie "Allahu akbar" ist Teil des Alltags einer jeden Muslima und eines jeden Muslims. Wenn das Gebet verrichtet wird, wird es mit "Allahu akbar" begonnen. Viele Bewegungen werden mit dem Ausspruch "Allahu akbar" eingeleitet.

Deshalb ist es richtig, den Ausspruch nicht den extremistischen Gruppierungen zu überlassen. Aber den Ausspruch einfach ohne jede Reflexion, ohne jede Erklärung zurückerobern zu wollen, finde ich schwierig. Das darf auch nicht nur von Muslim:innen erwartet werden. Ich weiss, dass das schwierig ist, aber es muss eigentlich eine gesamtgesellschaftliche, gemeinsame Auseinandersetzung damit geben.

Wie könnte diese Auseinandersetzung aussehen?

Wenn Extremisten den Ausspruch "Allahu akbar" sehr stark nutzen, reicht es nicht, den Ausspruch selbst zu nutzen, um das Extremistische herauszufiltern. So einfach geht es nicht. Aber irgendwo muss angefangen werden. Dafür braucht es sehr viel Aufklärungsarbeit, da muss sehr viel darüber diskutiert und reflektiert werden, damit man die Ambiguität dieses Begriffs überhaupt nachvollziehen kann. Ein plumpes Reclaiming wird nicht funktionieren.

Also wäre für Sie der richtige Weg, Aufklärung zu betreiben, den Menschen die Bedeutung der Gesten und Bewegungen zu erklären?

Richtig. Dafür bedarf es Aufgeschlossenheit auf beiden Seiten.

Anzeige gegen Julian Reichelt

Antonio Rüdiger und der DFB haben sich entschieden, eine Strafanzeige gegen Julian Reichelt zu stellen. Ist das die richtige Entscheidung?

Das kann ich nicht beurteilen. Julian Reichelt ist ein Rechtspopulist, der gegen bestimmte Gruppierungen hetzt. Der DFB und Antonio Rüdiger werden das sicherlich im eigenen Ermessen gut abgewogen haben.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Serdar Kurnaz ist Direktor am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Schwerpunkt des Islamwissenschaftlers und muslimischen Theologen ist Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart.

Verwendete Quellen

  • Telefonisches Interview mit Prof. Dr. Serdar Kurnaz
  • Instagram-Account von Antonio Rüdiger
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